: Die Angst ist ein ständiger Begleiter
UKRAINE Im ostukrainischen Dnjepropetrowsk ist vom Krieg kaum etwas zu spüren. Dennoch fürchten viele, prorussische Separatisten könnten vor den Wahlen am Sonntag Anschläge verüben, um Unruhe zu stiften
■ Die erneuten Gespräche zur Schlichtung des Gasstreits zwischen Russland und der Ukraine haben keinen Durchbruch gebracht. Die beiden Länder konnten sich auch am Dienstag nicht auf einen Betrag einigen, den die Ukraine für russisches Erdgas zahlen soll. EU-Energiekommissar Günther Oettinger sprach dennoch von „Fortschritten“. Die von der EU begleiteten Verhandlungen sollen kommende Woche fortgesetzt werden. Russlands Präsident Wladimir Putin hatte sich am Wochenende mit seinem ukrainischen Amtskollegen Petro Poroschenko auf eine Ausrichtung des Deals geeinigt. Dennoch blieb offen, wie, wann und wie viel die Ukraine künftig zahlen muss. Zudem geht es Russland auch darum, dass die Ukraine Altschulden von gut 3 Milliarden Dollar begleicht. (ap)
AUS DNJEPROPETROWSK ANDREJ NESTERKO
„Gerade mal 120 Kilometer, und wir sind zu Hause – dort in der anderen Welt.“ Der ältere Mann mit seinem kleinen Koffer auf dem Busbahnhof der ostukrainischen Stadt Dnjepropetrowsk ist froh, dass er einen der begehrten Plätze im Bus in seine Heimatstadt Krasnoarmejsk hat ergattern können. Für jeden, der heute von Kiew oder einer anderen ukrainischen Stadt zurück will in den Donbass, dorthin, wo schon kein Krieg mehr herrscht, ist auf dem Bahnhof von Dnjepropetrowsk erst mal Endstation. Weiter geht es nur mit dem Bus.
Beim Gang durch die Innenstadt dieser ostukrainischen Metropole deutet nichts darauf hin, dass die Millionenstadt nur wenige Dutzend Kilometer vom umkämpften Donbass entfernt liegt. Die Straßen sind sauber, Käufer und Verkäufer drängen sich auf den Basars, der rege Betrieb in den Einkaufszentren und die Schlange vor den Schaschlik-Ständen lassen den Krieg weit weg erscheinen. Auch die vielen Soldaten in Kampfuniform scheinen niemanden aus der Ruhe zu bringen. Der Wahlkampf ist hier das Thema Nummer eins und hat sogar den Krieg in den Hintergrund gedrängt.
Dass die Parlamentswahlen am kommenden Sonntag frei und fair sein werden, kauft niemand den Machthabern ab. Katja und Lena, die vor dem zentralen Markt Pfannkuchen verkaufen, fallen viele Kandidaten ein, die so korrupt seien, dass sie diesen nie ihre Stimme geben würden. Reformen seien von solchen Politikern nicht zu erwarten. „Wo du auch hinsiehst, überall die gleichen Gesichter. Alle haben für uns vor allem eins parat: Versprechungen.“ Die Angst, so die beiden Verkäuferinnen, sei ein ständiger Begleiter. „Ich brauche nur irgendwo einen Mann mit einem großen Koffer zu sehen und schon habe ich Angst, da könnte eine Bombe drin sein“, sagt Lena. Eine stärkere Ausrichtung auf Europa interessiert die Frauen nicht. Wichtig sind pünktlich gezahlte Renten, geheizte Wohnungen im Winter und eine separatistenfreie Umgebung.
Am ehesten traut man noch dem Gouverneur von Dnjepropetrowsk, Igor Kolomojskij, und den Machtstrukturen von Polizei und bewaffneten Einheiten zu, die Stabilität in der Stadt aufrechtzuerhalten. Diese warnen vor potenziellen Terroristen, die als Flüchtlinge aus dem Donbass nach Dnjepropetrowsk eingesickert seien, um auch in dieser Stadt Unruhe zu erzeugen. Derartige Provokateure, so eine verbreitete Meinung, hätten russische Ausbildungslager durchlaufen und seien geschult, in der Bevölkerung eine prorussische Stimmung zu erzeugen.
Dass das Leben in Dnjepropetrowsk so ruhig ablaufe, sei vor allem den Checkpoints an den Stadtgrenzen zu verdanken, wo mit strengen Kontrollen verhindert werde, dass in Dnjepropetrowsk Zustände wie in anderen Städten im Donbass herrschten, meint Denis Kosenko. Er koordiniert die Anwerbung von Freiwilligen für die „Antiterroroperation“. „Jeden Tag entdecken unsere Leute an den Checkpoints Autos voller Waffen auf dem Weg in die Stadt.“ Auch an den städtischen Verkehrsknotenpunkten leisteten Polizei und bewaffnete Einheiten gute Arbeit. Es habe sich ausgezahlt, dass man die Polizei in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt habe.
Stabilität, da herrscht Einigkeit in der Bevölkerung, hat Priorität. Manche befürchten, die Separatisten wollten wenige Tage vor den Wahlen mit einem gezielten Anschlag für Unruhe sorgen. Wer kann, unterstützt die Armee. Autowerkstätten bieten der Armee kostenlos ihre Dienste an, das Eisenbahnreparaturwerk von Dnjepropetrowsk repariert kostenlos Panzer.
„Unser Werk hat wegen des ausbleibenden Russlandgeschäftes Kapazitäten frei. Deswegen engagiere ich mich jetzt gerne für die Armee“, sagt der 35-jährige Fabrikarbeiter Jurij. Wählen werde er jedoch nicht. Radikale Veränderungen, so Jurij, erwarte er von keiner Partei. Es seien noch die gleichen Leute, die bei den Parteien das Sagen hätten, auch wenn diese mit neuen Gesichtern in die Öffentlichkeit gehen. Keine Partei, die nicht einen bekannten Militär auf ihrer Liste habe. Doch in der Politik brauche man nicht Soldaten, sondern Verwaltungsfachleute und kluge Köpfe aus der Wirtschaft.
Mit seinem Misstrauen steht Jurij nicht allein da. „Warum nur geben die Parteien und Politiker so viel Geld für den Wahlkampf aus?“, empört sich die Journalistin Elena. Besser wäre es, man würde dieses Geld zum Wohl der Bevölkerung nutzen oder der Armee geben. „Direkt im Krankenhaus hier um die Ecke“, fährt Elena fort, „werden Soldaten behandelt, die oft beide Beine oder Arme verloren haben.“ Für diese seien die Freiwilligen, die für deren Behandlung sammelten, die einzige Hoffnung. Anstatt viel Geld für riesige Plakate und teure Reklame in Funk und Fernsehen auszugeben, sollten diese Mittel besser für die Behandlung der Kriegsopfer zur Verfügung gestellt werden. „Politischer Werbung glauben die Menschen hier doch schon lange nicht mehr.“
Aus dem Russischen Bernhard Clasen