: Sterben für die Sicherheit
Die europäische Chemikalienrichtlinie wird die Anzahl von Tierversuchen in den nächsten Jahren drastisch in die Höhe treiben. Es werden zwar zunehmend alternative Testmethoden entwickelt und auch eingesetzt, doch sie werden nicht überall anerkannt
VON DANIELA WEINGÄRTNER
In einer Woche tritt die neue europäische Chemikalienrichtlinie Reach in Kraft. Dann müssen für 30.000 chemische Stoffe, die seit Jahren in Gebrauch sind, die toxikologischen Daten nachgeliefert werden. Zunächst werden alle Informationen gesammelt und in Datenbanken zusammengeführt, die bei den Herstellern bereits vorliegen. Nach Schätzungen müssen aber 86 Prozent der Informationen in Labortests ganz neu ermittelt werden.
Umweltschutzorganisationen werten das als Teilerfolg. Sie hatten sich ursprünglich dafür eingesetzt, dass auch Stoffe getestet werden müssen, von denen kleinere Mengen in Umlauf sind. Tierschützer hingegen warnen davor, dass schon die Basistests für 30.000 Stoffe dazu führen werden, dass Laborversuche an Tieren in den kommenden Jahren stark zunehmen werden. 70 Prozent der Tests werden für die Jahre 2011 bis 2017 erwartet. Dann sind alle Altchemikalien registriert und die Chemieagentur in Helsinki muss eine Vorentscheidung treffen, welche Tests nachgeliefert werden sollen.
Zum „Welttag des Labortieres“ hat die EU-Kommission vergangenen Monat einige vielversprechende Forschungsansätze vorgestellt, die den Verbrauch von Tieren in Tests deutlich reduzieren könnten. In Zusammenarbeit mit mehreren Industrieverbänden arbeitet das „Europäische Zentrum für die Bewertung alternativer Testverfahren“ (Ecvam) an solchen Methoden. Acht neue Tests werden bereits angewandt, darunter einer, der die tödliche Dosis einer Substanz ermitteln soll. Die Zahl der benötigten Versuchstiere pro Test wurde von 45 auf 8 reduziert.
Viele der vorgeschriebenen Untersuchungen werden inzwischen nicht mehr an lebenden Tieren durchgeführt, sondern an Hautpartikeln, die im Labor beliebig vermehrt werden können. Diese Gewebeläppchen reagieren wie menschliche Haut und können so die ätzende oder reizauslösende Wirkung eines Stoffes anzeigen. Früher mussten lebende Kaninchen oder Meerschweinchen die Prozedur über sich ergehen lassen.
Besonders intensiv werden seit dem Contergan-Skandal der 60er-Jahre mögliche Schädigungen der Erbsubstanz untersucht. 3.200 Tiere werden benötigt, um eine einzige Substanz auf ihre gentoxische Wirkung zu testen. Derzeit wird an Alternativen gearbeitet, die es ermöglichen, einen Teil der Untersuchungen an Zellkulturen durchzuführen. Nach Berechnungen von Ecvam-Leiter Thomas Hartung müssten in der ersten Reach-Phase für herkömmliche Verfahren 1,1 Millionen Versuchstiere eingesetzt werden. Durch alternative Methoden könnte die Zahl auf 300.000 reduziert werden.
Auch die Industrie hat an den neuen Verfahren großes Interesse, da Versuchstiere schlecht fürs Image und teuer sind. Nach Schätzungen des Verbands der Chemischen Industrie (VCI) wird es bis zu 400.000 Euro kosten, einen umfassenden Datensatz für eine einzige Chemikalie bereitzustellen. Die Hersteller sollen sich diese Kosten teilen und die Daten später gemeinsam nutzen.
In einer Konferenz mit den zuständigen Abteilungen der EU-Kommission verpflichteten sich 2005 die Verbände der chemischen und der pharmazeutischen Industrie sowie die Bio-, Kosmetik- und Pflanzenschutzbranche darauf, Tierversuche noch aussagekräftiger zu machen und, wo immer möglich, zu reduzieren und zu ersetzen.
Maria Purzner von der Tierschutzorganisation „Vier Pfoten“ sieht die Bekenntnisse aber skeptisch. Versuche ohne Tiere seien zwar billiger, doch zunächst bedeute die Umstellung auf neue Techniken hohe Investitionskosten. Außerdem gebe es Exportländer wie China, die alternativ getestete Produkte nicht ins Land ließen. „Die Industrie testet derzeit verstärkt, um die Datensätze zu vervollständigen, bevor Reach in Kraft tritt.“ Purzner drängt zur Eile. „Alles hängt davon ab, wie schnell die Alternativmethoden zugelassen und als vollwertige Tests für Reach anerkannt werden“, sagt sie.
Immerhin legt Reach ausdrücklich fest, dass – wo immer möglich – Tests ohne Tiere bevorzugt werden sollen. Thomas Hartung warnt allerdings davor, Tierversuche für überflüssig zu halten. In der Internet-Präsentation seiner Abteilung tummeln sich zwar putzige Hasen mit Sonnenbrillen, die wohl symbolisieren sollen, dass viele Versuchstiere bald Ferien machen können (www.jrc.cec.eu.int). Doch eine amerikanische Werbung für „Lash Lure“ aus den 30er-Jahren erinnert daran, welche Folgen der Umgang mit ungetesteten Chemikalien haben kann.
Das Augenbrauen- und Wimpern-Färbemittel versprach dem Käufer eine „strahlende Persönlichkeit“. In Wahrheit aber schädigte es den Augapfel, mindestens eine Kundin wurde blind. „Strahlende Wirkung“ entfaltete auch das Tonikum „Radithor“, das Radium enthielt und in den 30er-Jahren in Amerika viele Menschen zu einem schmerzhaften Tod verurteilte. Vorfälle wie dieser führten dazu, dass 1938 in den USA ein strenges Gesetz zur Kontrolle von Lebensmitteln, Kosmetika und Medikamenten erlassen wurde.
Für Kosmetikprodukte, die in der EU hergestellt oder importiert werden, gilt ab 2009 ein Verbot von Tierversuchen. 5.000 neue Produkte kommen jedes Jahr auf den Markt, Alternativtests sind teilweise schon zugelassen, teilweise in der letzten Stufe der Prüfung. Allein im gerade abgelaufenen 6. Forschungsrahmenprogramm wurden unter Mitwirkung von 260 Firmen 13 Projekte gefördert, die alternative Tests ausarbeiten sollen. 80 Millionen Euro stellte die EU dafür zur Verfügung.
Während die Tierschützer also in einigen Bereiche Erfolge vermelden können, fällt die Gesamtbilanz weniger positiv aus. Denn neue Forschungsrichtungen wie Nanotechnologie und Gentechnik entwickeln neue Substanzen, deren Wirkung auf den menschlichen Organismus völlig unbekannt ist. „Deshalb nehmen in diesen neuen Bereichen die Tierversuche zu. Unsere Arbeit ist noch lange nicht zu Ende“, sagt Maria Purzner.