The Kids Are Alright

Theater an der Hauptschule statt Theater um die Hauptschule: Das Bochum Schauspiel und seine Theaterpädagogin Sandra Anklam gewinnen in viermonatiger Probenarbeit die Schüler für sich

Der Einspringerin flüstern die Umstehenden Kommandos zu, soufflieren, unterstützen

VON REGINE MÜLLER

Ein Jahr ist es her, dass das Kollegium der Rütli-Hauptschule in Berlin-Neukölln sich Hilfe suchend mit einem Brandbrief an den Senat wandte: „Wir sind ratlos“, gestand der überforderte Lehrkörper, die weiteren Ausführungen lasen sich als Mischung aus pädagogischer Bankrotterklärung und Vorwurf. Die Öffentlichkeit lokalisierte wie üblich das Problem im Symptom. Schnell kursierte das Wort von der „Terrorschule“, die Rütli-Schule wurde zum Synonym der deutschen Schulmisere und dem traurigen Schlusslicht des veralteten Systems, der Hauptschule.

Nicht erst seit einem Jahr gilt die Hauptschule als Sammelbecken der Chancenlosen, der Verlierer und aggressiven Verweigerer. Auch Sandra Anklam musste erst einmal schlucken, als sie hörte, dass sie mit fünfzehn Hauptschülern arbeiten sollte. Die Theaterpädagogin des Bochumer Schauspielhauses bekennt freimütig: „Ein bisschen Schiss hatte ich am Anfang schon. Das ist nicht ohne mit so einer Horde.“

Zwar gibt es in der dichtesten Theaterlandschaft der Welt kaum noch eine Bühne ohne eigene theaterpädagogische Abteilung, Hauptschulen aber werden aus diesen Bemühungen zumeist ausgeklammert, denn die Zielgruppen sind eher die oberen Jahrgänge der Gymnasien und deren Literaturkurse. Daher die Skepsis der ansonsten durchaus hartgesottenen Theaterpädagogin. Anklam hat nun gemeinsam mit Martina von Boxen und zahlreichen weiteren Helfern mit Schülern aus vier Bochumer Hauptschulen in viermonatiger Probenarbeit das Theaterstück „Sparkleshark“ von Philip Ridley erarbeitet.

Insgesamt 54 Schüler sind an dem Projekt beteiligt. Schauspieler, Tänzer, Sänger, Musiker und ein Videoteam haben eine eigene Fassung von Ridleys Stück geschaffen, dessen Handlung auf raffinierte Weise genau das spiegelt, was tieferer Sinn der theaterpädagogischen Basisarbeit ist: Jake, ein jugendlicher Einzelgänger, versteckt sich vor einer gewaltbereiten Gang und findet eine Freundin, der er seine erfundenen Geschichten erzählt. Die Gang kommt ihm auf die Spur, doch Freundin Polly wehrt die drohende Eskalation ab, indem sie eines von Jakes Märchen erzählt. Fast unmerklich bekommen die Kids fantastische Rollen zugespielt und geraten zunehmend in den Bann der Geschichten, die sie schließlich friedlich zusammenführen.

Auf der Bühne geschieht also das, was sich zuvor gruppendynamisch auf den Proben abgespielt hat. Nach monatelanger kleinteiliger Gruppenarbeit, der die Schüler freiwillig ihre Freizeit sogar in den Ferien opferten, wird es nun ernst: ein sechsstündiger Intensivprobentag sieht vor allem einen ersten Durchlauf vor. Alle Einzelteile wollen nun zusammengebastelt, koordiniert und in Fluss gebracht werden. Fast alle sind bei der Stange geblieben, doch ausgerechnet der Darsteller einer tragenden Rolle hat sich in der letzten Probenphase als unzuverlässig herausgestellt. Er wird nun ersetzt durch ein Mädchen, das sich spontan als Einspringerin gemeldet hat und sich zutraut, die Rolle so schnell zu übernehmen. Beim Durchlauf hat sie zuerst noch den Text in der Hand, später spricht sie frei.

„Unglaublich mutig“ findet Martina von Boxen die rettende Tat. Sie sagt viel darüber, wie viel Energie durch diese Arbeit frei wird in den Schülern, denen sonst niemand viel zutraut. Selbst die betreuenden Lehrerinnen sind erstaunt. Angelika van den Beld von der Heinrich-Kämpchen-Schule hat ihre Schützlinge noch nie so intensiv erlebt und ist begeistert, „was da so alles drinsteckt“. Die Kolleginnen können allesamt beipflichten und berichten, dass die Theatererfahrung von den Beteiligten tatsächlich mitgenommen wird in die Schule.

Konzentration, Koordination und soziale Fähigkeiten werden gefördert durch solche Art kreativer Gruppenarbeit, das ist hinlänglich bekannt. Vor allem das häufig brachliegende Selbstbewusstsein der Schüler bekommt steilen Auftrieb dadurch, auf einer Bühne zu stehen, sich auszudrücken und sich emotional zu öffnen. All das wird von Pädagogen, Soziologen und Politikern immer wieder beschrieben, beschworen und in Festtagsreden abgenickt. Doch müssen sogar in den Schulen selber die beteiligten Lehrerinnen (nur Frauen, kein einziger Mann!) gegen Widerstände ankämpfen. Teile der Kollegien finden Projekte dieser Art gar überflüssig, den Aufwand zu groß und die Ergebnisse angeblich nicht überprüfbar. Die Hoffnungslosigkeit steckt also ganz offensichtlich im veralteten System und nicht in den Schülern.

Denn die sind unübersehbar hoch motiviert, konzentriert, nervös, nur ein bisschen albern und von einer Ernsthaftigkeit beseelt, die fast rührend ist.

Disziplinprobleme? „Kaum“, sagen die Projektleiterinnen, anfänglich gab es Reibereien und Autoritätsgefechte, aber schon längst ist das kein Thema mehr. Und Konflikte innerhalb der Gruppen? Auch die gebe es natürlich, aber die würden außerhalb des Probengeschehens gelöst. „Ganz professionell“ arbeiteten die Kids inzwischen, gibt die Leitung zu Protokoll, „sie verlangen nach mehr Proben, wenn es hakt“. Null Bock? Verweigerung? Keine Spur.

Der Durchlauf klappt, ein paar kleine Hänger werden routiniert abgefangen, der Einspringerin flüstern die Umstehenden Kommandos zu, soufflieren, unterstützen. Einige echte Naturtalente ragen heraus, das Ganze hat bemerkenswerten Schwung und – nicht zuletzt durch die eigene Textbearbeitung – Authentizität. Die Sprache der Kids auf die Bühne zu holen wird zwar vielerorts versucht, doch missrät dies meistens zur Anbiederung. Hier ist es echt.

„Sparkleshark“. Premiere am 20. 3. 07, 19.30 Uhr in den Bochumer Kammerspielen. Weitere Vorstellungen: 21. 3., 10 und 12 Uhr, 23. 3., 10 Uhr