: Der große Rausch
St. Pauli kehrt nach einem 2:2 gegen Dynamo Dresden nach vier Jahren zurück in die Zweite Fußball-Bundesliga. Nach einem Zitterspiel feiern 60.000 Fans mit ihren Aufstiegshelden eine Nacht lang wie im Rausch. Nur im Schanzenviertel wird die Mannschaft vermisst – dort ist dafür die Polizei präsent
VON MARCO CARINI
Den ganzen Tag ist rund um die Reeperbahn und das Schanzenviertel in Hamburg ein Knistern zu spüren. Während der Himmel sich am Vormittag mit Donnergroll und Blitzschlag entlädt, steigt bei den Fans des FC. St. Pauli bis zum frühen Abend minütlich das Fieber. Es gibt kein anderes Thema auf den Straßen rund um das Millerntor. Nach vier Jahren in den Niederungen der Regionalliga steht der Hamburger Traditionsverein mit einem Bein in der Zweiten Bundesliga.
Ein Unentschieden, ein einziger Punkt gegen Dynamo Dresden trennt die selbst ernannten Freibeuter der Liga vor dem letzten Heimspiel noch vom Aufstieg. Die Zuversicht ist groß: Im laufenden Jahr haben die Kiez-Kicker jedes Spiel am Millerntor gewonnen, dabei kein einziges Tor kassiert, doch nun, wo es drauf ankommt …?
Die Vorbereitungen laufen
Die St.Pauli-Anhänger werfen sich in die Vereinskluft, Schals werden umgebunden, Trikots übergeworfen, St. Pauli-Bettwäsche für die Nacht der Nächte aufgezogen. Techniker verlegen die letzten Kabel am Spielbudenplatz, wo das Spiel für 30.000 Fans, die keine Eintrittskarte ergattern konnten, auf einer Großbildleinwand übertragen werden soll.
Die Polizei, die Ausschreitungen zwischen den Fans beider Vereine befürchtet, bringt Wasserwerfer und Räumpanzer in Stellung. „Warum haben die Panzer, wollen die auf uns schießen?“, fragt ein etwa achtjähriger St.Pauli-Fan seinen Vater auf dem Weg ins Stadion.
Während die Mannschaft, frenetisch begrüßt von 14.000 Hamburger Fans im ausverkauften Baustellenstadion, ihre Aufwärmübungen beginnt, hat sich ihr Trainer Holger Stanislawski, der hier nur „Stani“ genannt wird, in eine stille Ecke hinter den Dresdner Mannschaftsbus verzogen, um die Nervosität mit einer Dosis Nikotin wegzuinhalieren. Seine Gesichtszüge sind in Beton gegossen, die innere Anspannung greifbar.
Frühere Kiez-Kicker, wie die gerade mit Mainz 05 abgestiegenen Ralf Gunesch und Fabian Gerber, haben sich stundenlang über die Autobahnen gequält, um ihren Ex-Club zu unterstützen und auch Nationalspieler Gerald Asamoah hat es sich nicht nehmen lassen, zum finalen Festakt anzureisen. Die Fans haben alles für ein Fußballfest gerichtet: Luftballons, liebevoll hergestellte Transparente, auf denen die Regionalliga verabschiedet wird, werden präsentiert, mit Höllenlärm böse Fußball-Geister vertrieben, bis um 19.45 Uhr – mit einer Viertel Stunde Verspätung – das Spiel der Spiele beginnt.
Es werden 90 Minuten des Leidens. „Grausam“, sagt Holger Stanislawski später, seien für ihn diese Minuten auf der Bank gewesen. Zweimal gehen die Kiez-Kicker in Führung, beide Male müssen sie postwendend den Ausgleich hinnehmen. „Habt ihr Angst aufzusteigen“, blökt Stanislawski in der Halbzeitpause – es steht 1:1 – seine Spieler an und empfiehlt ihnen „mutig nach vorne“ zu spielen.
Doch die Kicker vom Kiez wirken an diesem Abend gehemmt, Dresden wittert die Chance, mit einem Sieg, selbst noch mal am Aufstieg zu schnuppern. Als ausgerechnet Rothenbach, als Abwehrspieler bislang noch ohne jedes Millern-Tor, knapp zehn Minuten vor Spielende die erneute Hamburger Führung erzielt, wird er von allen Spielern der Mannschaft begraben.
Der Aufstieg ist zum Greifen nah – und wird verfrüht gefeiert. Als Stadionsprecher Rainer Wulff sich zu einem „noch drei Minuten bis zum Aufstieg“ hinreißen lässt, die Spielerfrauen bereits ihr mitgebrachtes Transparent („Wir sind stolz auf euch, Jungs“) entwickeln, kippt erst die Konzentration, dann Torwart Borger in die falsche Ecke und mit dem 2:2-Ausgleich fast noch das Spiel. Der Schlusspfiff: Eine Erlösung die alle Dämme brechen lässt.
Tanzende Männer in kurzen Hosen, sich küssende Männer, singende und grölende Männer, auf allen Vieren zur Raupe vereint über den Rasen kriechende Männer, sich kübelweise mit Bier begießende Männer – Männer außer Rand und Band, am Rande des für den Uneingeweihten albern bis peinlich wirkenden Verhaltens. Eine Stunde lang können die enthusiastischen Fans ihre völlig losgelösten Lieblinge auf dem Rasen nach Spielschluss noch genießen. Die präsentieren zur Feier des Abends den Anhängern die neuen Aufstiegs-T-Shirts mit dem Aufdruck „Back from hell, rock me 2. Liga“.
„Es hat sich alles gelohnt, alles hat sich gelohnt“, resümiert Trainer Stanislawski immer wieder vor sich hin, als sei in seinem leer gefegten Hirn kein Platz mehr für einen weiteren Gedanken. Erst nachdem er in der Kabine von „seinen Jungs“ gepackt und mit einem Sixpack Astra begossen wird, entweicht die letzte Verkrampfung.
Es ist kurz vor Mitternacht, als die Spieler am Spielbudenplatz eintreffen. Die angrenzende Reeperbahn ist für den Verkehr gesperrt, der Platz mit rund 50.000 Fans hoffnungslos überfüllt. Das eine Scherbe das Lautsprecherkabel durchtrennt, die Dankesreden von Mannschaft und Spielern nur von kundigen Lippenablesern verstanden werden können, stört niemand. Immer wieder stimmen Mannschaft und Fans unter den Bier-Fontänen Gesänge an, von der Fußball-Hymne „You’ll never walk alone“ bis zum pünktlich intonierten Hans-Albers-Evergreen „Auf der Reeperbahn nachts um halb eins“, wird gegrölt, was die Stimmbänder hergeben.
Feiern bis in den Morgen
Bis in die frühen Morgenstunden belagern die Fans den „Ballsaal“ des vom Vereinspräsidenten Corny Littmann betriebenen Schmidt-Theaters, in den sich die Mannschaft kurz vor ein Uhr zurückzieht. Immer wieder scheucht Littmann die „Fußball-Helden“ zurück auf den Balkon des Bühnenhauses, um sich den ausharrenden Fans zu zeigen. Im Ballhaus fließt der Caipirinha in Strömen, Abwehrrecke Marcel Egner, der in dieser Nacht zum Kettenraucher mutiert, ist einer der ersten, der mit Wortfindungsproblemen zu kämpfen hat. Auch Spieler wie Clemens Lange und Hauke Brückner, die den Verein verlassen müssen, kosten es aus, „hier noch dabei sein zu dürfen“. Andere feiern stiller. Spielgestalter Thomas Meggle inhaliert „den Augenblick, wegen dem ich vor zwei Jahren nach St. Pauli zurückgekommen bin“ auffallend nüchtern, als wolle er sich jede Szene der Nacht ganz genau und für immer einprägen.
Im benachbarten Schanzenviertel kennt die dritte Halbzeit andere Spielregeln. Die ganze Nacht liefern sich meist angetrunkene Fans und G8-Gegner rund um das autonome Zentrum Rote Flora Scharmützeln mit der in voller Kampfmontur präsenten Polizei. 400 Meter weiter, bei der offiziellen Saisonabschluss-Fete im Knust, wird die Mannschaft immer wieder gefeiert und gleichzeitig vermisst. Dass sich die Spieler trotz anderslautender Ankündigungen hier nicht sehen lassen, wird von einigen Fans bemängelt. Doch der Freude tut das keinen Abbruch. Es ist längst wieder hell, als sich der Spielbudenplatz und die Schanze lehren, die Gesänge langsam verstummen. Die frisch aufgezogene Vereinsbettwäsche wartet – nun heißt es, von der Zweiten Liga träumen.