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Archiv-Artikel

Schöner leben in Zehlendorf

Die Ökosiedlung Berliner Straße ist eine der ersten ihrer Art in Berlin. 172 Familien leben in dem lichten, kinderfreundlichen Ensemble – und helfen sich gegenseitig. Nur manche nervt das Idyll

VON ULRICH SCHULTE

Das Idyll hat Kratzer bekommen. Auf den Backsteinwänden des Nachbarschaftshauses prangen gesprayte Tags, ein ewiges Ärgernis. Auf der Dachterrasse steht Gerümpel. Und von den Rahmen der Fensterfront, durch die man auf den schilfgesäumten Teich schaut, blättert der Lack. „Hier muss einiges gemacht werden“, sagt Marion Collarino-Loll, Vorstandsmitglied der Ökosiedlung Berliner Straße. „Alles, was hier anfällt, kostet jeden Einzelnen Geld – einige sind darüber stinksauer.“

Das Idyll ist auch schon 15 Jahre alt. Anfang der 90er-Jahre zogen 172 Familien in das lichte Ensemble von Miet- und Eigentumswohnungen zwischen der S-Bahn-Strecke und der lauten Berliner Straße. So viele Kinder waren dabei, „dass unser Durchschnittsalter bei 23 Jahren lag“, erzählt Collarino-Loll, eine resolute, 49-jährige Frau, und lacht.

Sie alle träumten von einem besseren Leben mitten in der Stadt: Kinderfreundlich, ökologisch und solidarisch sollte es sein. Und eben gemeinsam: Alle Eigentümer haben sich am Nachbarschaftshaus beteiligt und müssen eben auch für Reparaturen aufkommen.

Kindergeschrei nervt

Der Boom der Baugruppen und Wohnprojekte, den Berlin heute erlebt, hat hier angefangen – die Siedlung ist eine der ersten ihrer Art. Collarino-Loll und ein paar andere sitzen bei Vollkornkeksen auf der dreieckigen Holzterrasse vor dem Teich und berichten, wie sich Traum und Träumer gewandelt haben. „Das Alter hat sich verschoben, klar. Gerade aus den Mietwohnungen ziehen die Leute aus, wenn ihre Kinder groß sind – weil sie irgendwann das Kindergeschrei nervt.“ Dem kann hier niemand ausweichen. Wie große U sind die Häuser um Spielplätze gebaut, die sich mit Mietergärten abwechseln und durch verschlungene, baumgesäumte Pfade miteinander verbunden sind. Grün ist es überall.

Anja-Katrin Fleig, 42, zog 2002 aus Neukölln in eine der Dreizimmerwohnungen, weil sie ihre Kinder nicht zwischen Autos und Hundehaufen großziehen wollte. „Es ist wie ein großes Netzwerk. Natürlich findet man schnell Freunde. Aber es helfen auch Leute, die man nur flüchtig kennt.“ Als sich ein Freund beim Kochen in die Hand schnitt, fuhr ihn eine Nachbarin ins Krankenhaus – Anja-Katrin Fleig selbst hat kein Auto.

Sie schätzt die Familienfreundlichkeit der Siedlung: Ihre Kinder sieht sie vom Balkon aus auf dem Spielplatz, es findet sich immer jemand, der sie beaufsichtigt. „Wir haben hier alle positiven Aspekte des Dorflebens“, sagt Vorstand Collarino-Loll. Und die negativen: Das Quaken der Frösche ist nachts so laut, dass es einige stört.

Ende 1992 waren die ersten Wohnungen auf dem ehemaligen Baumschulgelände im Nordosten Zehlendorfs fertig. Nach damaligem Stand war die Mischung aus sozialem und freiem Wohnungsbau, Genossenschafts- und Eigentumswohnungen revolutionär – genau wie die Bauweise: Die Fußbodenheizung wird mit dem Rücklauf aus dem nahen Kraftwerk Lichterfelde betrieben, mit dem Strom des Windrades wird ein kleiner Bach durch das Gelände gepumpt, die Wintergärten isolieren in der kalten Jahreszeit die dahinter liegenden Wohnräume.

Kakteen in Wintergärten

Die Baukosten sprengten, wie im Berlin der 90er-Jahre üblich, schnell den Rahmen. Die Idee, Klos und Waschmaschinen mit Regenwasser zu beschicken, ließen die Planer aus Kostengründen fallen – die Zisternen werden nur für den Garten genutzt. Auch die Planung ließ mancherorts zu wünschen übrig. In manchen Wintergärten heizt sich die Luft dermaßen auf, dass die Bewohner nur Kakteen darin halten können, erzählt Collarino-Loll. „In einigen ließen sich die Fenster überhaupt nicht öffnen, sodass die Bewohner nachträglich umbauen mussten.“

Doch das sind letztlich nicht die entscheidenden Dinge. Die Bewohner lieben ihre Siedlung, und diese ist im Bezirk zur festen Größe geworden: Im Nachbarschaftshaus bietet der Schülerclub einen Mittagstisch und Nachmittagsbetreuung an, viele Kinder kommen von außerhalb. Die Zusammenarbeit mit der gegenüber liegenden Grundschule ist eng. Und wenn es gilt, eine Ampel über die viel befahrene Berliner Straße zu erkämpfen, statten die Ökosiedler zusammen mit ihren Kindern dem Bauausschuss des Bezirks einen Besuch ab. Erfolgreich. Die Ampel steht seit Januar – jetzt muss nur noch eine längere Grünphase her.