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Archiv-Artikel

Entrücktes Echo aus Canterbury

KONZERT Musik für Minderheiten: Hairy Sands mit schön verschrobenem Pop im Neuköllner Loophole

Etwas Kulturtourismus. Und dabei kann man gut mal mit dem Mittelenglischen anfangen, dessen man doch mächtig sein sollte, wenn man die „Canterbury Tales“ im Original lesen möchte, also diesen Erzählreigen aus dem 14. Jahrhundert von Geoffrey Chaucer, den Pier Paolo Pasolini in einen recht burlesken Film übersetzt hat, „Pasolinis tolldreiste Geschichten“. Dafür bekam der gerade im Martin-Gropius-Bau mit einer großen Ausstellung gewürdigte italienische Regisseur und Dichter 1972 bei der Berlinale den Goldenen Bären. „Canterbury Tales“ ist auch der Titel eines Albums der englischen Band Caravan, aus der Gegend von Canterbury kommend und mit Gruppen wie Soft Machine oder Hatfield & The North verbandelt, ein wichtiger Markstein des sogenannten Canterbury Sounds, mit dem man nun endlich – vielleicht nicht auf der kürzest möglichen Stecke, aber ohne wirkliche Umwege –, im Neuköllner Loophole gelandet ist.

Denn dort, in diesem schön schäbigen Hinterzimmerschlupfloch für kulturelle Entrücktheiten, spielten am späten Donnerstagabend Hairy Sands, ein Trio aus Brooklyn, New York, das in seinen Liedern auch nicht gerade einfach zackbumm mit schnell herausgehauenen Melodien zur Sache kommt. Stattdessen setzen Hairy Sands auf eine verhaltene und innehaltende, sich immer wieder vergewissernde Musik, mit eigenwilligen Gesangslinien, die nicht gleich in einen schlichten Refrain münden wollen. Songs in einer psychedelischen Grundstimmung, manchmal in Richtung Jazz gespielt, ohne dabei wirklich Jazz zu werden. Das ist eine meist mild gestimmte, etwas entrückte Musik, die tatsächlich aufs Angenehmste an den Canterbury Sound erinnert – und wegen dem annoncierten Verweis auf die kulturelle Wahlverwandtschaft zwischen der Band aus Brooklyn mit den eigentlich historischen Modellen der Canterbury Szene, die ihre schönste Blütezeit immerhin auch schon Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre hatte, ist man ja ins Loophole gekommen.

Wobei man es bei Hairy Sands keineswegs mit einem möglichst detailgenauen Nachbau von untergegangenen musikalischen Welten zu tun hat, dafür begeistern sie sich für zu viele weitere, auch disparate Einflüsse, Exotica-Klänge genauso wie deutscher Krautrock. Es ist nur so, dass deren Lieder in ihrer leicht quertreibenden Eleganz so klingen, als hätte ihnen ein Robert Wyatt oder auch Kevin Ayers – beides zentrale Canterbury-Figuren – beim Komponieren ein wenig über die Schulter geguckt.

Jetzt war es aber auch so, dass die Band im Loophole zuerst reichlich mit technischen Problemen zu kämpfen hatte und viele Finessen aufgefressen wurden vom lausigen Sound. Auf der Bühne klang deswegen manches mehr nach einer recht ungefähren und zerrupften Skizze, was auf Platte von Hairy Sands reicher und mit einem ganz anderen Zauber ausgeführt ist.

Aber das hat ja auch gar nicht so viele interessiert. Selbst der Begriff Außenseiterstatus wäre für die Band, die jetzt immerhin bereits seit zehn Jahren an ihrer Musik arbeitet, fast schon übertrieben. Verschrobenes, für die versteckten Schlupflöcher dieser Welt. Was eben das Tolle ist: Wenn sich dreißig Menschen in einem schäbigen Neuköllner Hinterzimmer für eine Nacht lang auf eine Musik einigen können, die möglicherweise dem Mittelenglischen näher ist als fast der gesammelten aktuellen Popproduktion – und dabei dennoch gar nicht aus der Zeit gefallen ist in ihrem Paralleluniversum, dann ist der Pop doch noch ganz in Ordnung.

Als „a crazy diamond from NYC underground“ wurden Hairy Sands mal in auch recht apokryphen Medien bezeichnet. „Shine on“, möchte man ihnen mit Pink Floyd wünschen. „Shine on“. THOMAS MAUCH