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Archiv-Artikel

Hauptpreis für Erstklässler

FILMFEST Auf dem 22. Internationalen Filmfest Emden-Norderney wurden am Sonntagabend mit „The First Grader“ und „Oranges and Sunshine“ zwei politische Filme aus Großbritannien ausgezeichnet

VON WILFRIED HIPPEN

Sobald im Kino gelacht wird, gehen die Chancen auf einen der Hauptpreise flöten. Das Seltsame daran ist, dass auf dem Filmfest Emden-Norderney abgesehen vom EZetera-Filmpreis, der von einer Schülerjury vergeben wird, das Publikum über alle Auszeichnungen entscheidet. Und dieses kommt zwar in Scharen (kein anderes Filmfestival in Norddeutschland hat so viele einheimische Besucher), will aber offensichtlich nicht unterhalten, sondern lieber gesellschaftskritisch belehrt werden. Da konnte im Jahr 2007 selbst eine schöne musikalische Romanze wie „Once“ im Wettbewerb um den Bernhard Wicki Preis antreten, das Publikum zu jubelndem Beifall hinreißen und ein paar Monate später mit einem Oscar für die besten Filmmusik prämiert werden. Als es darum ging, die Wahlkarten einzureißen, schüttelten die Emder schnell ihren Enthusiasmus ab und stimmten lieber mehrheitlich für den Film „Sounds of Sand“ von Marion Hänseler, der davon erzählt, wie afrikanische Flüchtlinge in der Wüste verdursten.

So gab es auch in diesem Jahr höchstens die theoretische Möglichkeit, dass etwa die britische Multikulti-Komödie „The Infidel“, das sehr komische finnischen Roadmovie „Lapland Odyssey“ oder gar der französische Thriller „Point Blank“ etwas gewinnen könnten. Diese Filme mögen zwar später im Jahr gute kommerzielle Chancen in den deutschen Programmkinos haben, aber gerade deshalb werden sie vom Emder Publikum verpönt. Stattdessen gab es zwei Favoriten, die wie maßgeschneidert sowohl für den DGB Filmpreis wie auch für den Bernhard Wicki Preis wirkten. Zwischen beiden gibt es verblüffende Parallelen und beide sind gleich gut gelungen, sodass es ein wenig schade ist, dass „Oranges and Sunshine“ von Jim Loach nur den zweiten Platz beim Bernhard Wicki-Preis belegte, während „The First Grader“ von Justin Chadwick gleich bei beiden Hauptpreisen abräumte.

In beiden Filmen wird britische Vergangenheitsbewältigung betrieben, in beiden geht es um moralische Altlasten des Britischen Empire, beide basieren auf wahren Geschichten und in beiden gibt es eine energische Heldin, die in der Gegenwart versucht, Missstände zu beseitigen und dabei auf einen Skandal aus der britischen Kolonialzeit stößt.

In „The First Grader“ wird die Geschichte vom ältesten Erstklässler der Welt erzählt. In Kenia versprach vor ein paar Jahren ein neuer Präsident „kostenlose Schulbildung für alle“, und neben einer riesigen Schah von Kindern meldete sich dafür auch der 84jährige Maruge am Schultor der Schulleiterin Jane Obinchu. Gegen Widerstände der Bürokratie setzte die mutige und eigenwillige junge Frau durch, dass Maruge bei ihr Lesen, Schreiben und Rechnen lernt. Bald werden die Medien aufmerksam und die Geschichte wird zu einem Politikum. Besonders nachdem sich herausstellt, dass Maruge bei den Mau Mau- Aufständen in den 50er Jahren gegen die britischen Kolonialisten kämpfte, die seine Frau und sein Kind umbrachten und ihn jahrelang in Gefangenschaft hielten und folterten. Der Film erzählt zum einen die bewegende Geschichte davon, wie Maruge durch elementare Bildung sein Selbstvertrauen und seine Würde zurückgewinnt, obwohl er zuerst zwischen den Sechsjährigen in den kurzen Hosen seiner Schuluniform lächerlich aussieht. Politisch brisant sind dagegen auch heute noch die Rückblenden, in denen von den Brutalitäten der britischen Kolonialisten noch im im Kenia der 50er Jahre des letzten Jahrhunderts erzählt wird. Diese Kriegsverbrechen wurden nie bestraft und die offizielle britische Geschichtsschreibung verleugnet sie bis heute.

Besonders wird Chadwicks Film aber dadurch, dass er mit einem kleinen Drehteam tief in die Wildnis von Kenia zog und dort in einer kleinen Siedlung arbeitete. Neben einer Handvoll von professionellen Schauspielern waren alle Darsteller Laien, und so hat der Film besonders in den Schulszenen mit all den Kindern, die tatsächlich in die gezeigte rudimentäre Schule gehen, auch eine nicht zu unterschätzende dokumentarische Ebene.

„Oranges and Sunshine“ von Jim Loach bietet dagegen typisch britisches Schauspielerkino mit Emily Watson in der Rolle der britischen Sozialarbeiterin Margaret Humphreys, die in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts beginnt, einige Fälle von Heimkindern zu untersuchen, die sehr jung nach Australien verschickt wurden und nun ihre Eltern suchen. Schnell stellt sich heraus, dass diese Fälle die Spitze eines Eisberg sind, und seit dem 19. Jahrhundert Tausende von Kindern, die in die Obhut der britischen Sozialbehörden gegeben wurden, nach Australien deportiert wurden, wo sie oft in Heimen zu harter Kinderarbeit gezwungen oder missbraucht wurden. Durch Margaret Humphreys Untersuchungen wurden diese menschenverachtenden Praktiken in Großbritannien und Australien bekannt, und der Film folgt ihren Investigationen. Dabei wird er einerseits den Opfern gerecht, in dem er einfühlsam von einer Handvoll von exemplarischen Fällen erzählt. Loach jr. zeigt aber auch, welche Schwierigkeiten der Sozialarbeiterin von den betroffenen Behörden gemacht wurden, und wie mutig und gewitzt sie sich diesen mächtigen Gegnern stellte.

Bei beiden Filmen ist fraglich, ob sie in Deutschland in die Kinos kommen, denn ihre Themen sind für eine kommerzielle Auswertung in Deutschland zu britisch. Beim Filmfest Emden zählten sie dagegen zu den Höhepunkten und bei „The First Grader“ gab es sogar in den Schulszenen ein paar zögerliche Lacher aus dem Publikum.