: Der andere Aufbruch
Geht es um Aufbrüche in dieser Gesellschaft, wird gern der laute Protest gegen Stuttgart 21 bemüht – als spektakuläres Beispiel dafür, wie Bürger auf die Straße gehen. Doch es gibt auch den ganz anderen, stilleren Aufbruch: Menschen, die sich aufgemacht haben, anderen Menschen zu helfen – um soziale Realitäten zu gestalten und zu verändern. Es sind die Engagierten, die Freiwilligen. Und Nürtingen ist die heimliche „Hauptstadt des Ehrenamts“
von Rainer Nübel
Das Leben von Egon Waldstett änderte sich buchstäblich auf einen Schlag. An einem Morgen im Jahr 2003 wachte der Konstrukteur auf und konnte nicht mehr sprechen. Schlaganfall. Der 48-jährige Mann hatte Glück, sein Nachbar war Arzt. Er kam rechtzeitig ins Krankenhaus, die spätere Reha war erfolgreich. Doch die Probleme mit der Feinmotorik blieben, seinen Beruf konnte er nicht mehr ausüben. Aufgeben galt nicht, er wollte etwas tun.
Egon Waldstett lebt in Nürtingen, einer Vorzeigestadt in Sachen bürgerschaftliches Engagement, die dafür schon mehrfach ausgezeichnet wurde, zuletzt 2009 mit dem Deutschen Engagementpreis. Im Bürgertreff, dem Herz der Freiwilligenarbeit in der 40.000-Einwohner-Stadt, stieß sein Vorschlag, eine Selbsthilfegruppe für Schlaganfall-Betroffene einzurichten, auf offene Ohren. Da er wusste, wie groß die psychische Belastung seiner Frau in der akuten Zeit seiner Erkrankung war, dass sie mitunter an Scheidung dachte, weil alles zu viel geworden war, gründete er gleich noch eine Selbsthilfegruppe für Angehörige dazu.
Nicht nur die Zahl der Protestbürger ist gestiegen
Heute reist Egon Waldstett durch die Republik, hält Vorträge und Kurse für Schlaganfall-Betroffene und deren Angehörige, zeigt Reha-Übungen, erklärt, wie wichtig Eigeninitiative ist, macht Mut. Und ist zuweilen selbst davon überrascht, wie offen, ungezwungen, selbstbewusst und witzig er reden und erzählen kann. „Das konnte ich früher so nicht.“ Lachen dringt aus den Kursräumen, wo es um das Leben nach einem Schlaganfall geht. „Wenn Sie morgens aufstehen und Schmerzen haben, dann leben Sie noch“ – Waldstetts Humor bewegt die Betroffenen immer wieder, befreit. Wie auch sein Motto, das er augenzwinkernd bei jeder Gelegenheit ausspricht: „Es geht alles.“
Egon Waldstett ist als Betroffener zu einem Engagierten geworden. Er zählt zu den Menschen, die aufgebrochen sind, um anderen Menschen zu helfen, für sie da zu sein. Nicht, weil es ihr Job wäre, weil sie dafür Geld bekämen, sondern freiwillig, ehrenamtlich, häufig zum Nulltarif oder nur für eine kleine Aufwandsentschädigung. Keineswegs nur die Zahl der Protestbürger, sondern auch die solcher Menschen ist in den vergangenen Jahren gestiegen.
Sie verteilen in Vesperkirchen Essen an alte Menschen, Langzeitarbeitslose und Obdachlose. Oder verkaufen in „Tafel“-Läden Lebensmittel, die Discounter bereits aussortiert haben, zu geringen Preisen an Bedürftige. Oder üben Nachbarschaftshilfe. Oder gründen Selbsthilfegruppen. Oder betreuen Kinder, damit deren alleinerziehende Mütter arbeiten können. Oder machen Einkäufe für Senioren. Oder organisieren Spielenachmittage in Pflegeheimen. Oder helfen Behinderten. Oder unterstützen Jugendliche bei ihrer Lehrstellensuche. Oder kümmern sich um Menschen, die das Leben aus der Bahn geworfen hat, die schwer krank geworden sind, physisch oder psychisch.
Einige haben, wie Egon Waldstett, selbst schon die Erfahrung gemacht, wie rasch sich das Leben dramatisch ändern kann, wie plötzlich alles anders ist, wie wichtig dann Hilfe oder Zuwendung werden – und der Wunsch, Wille oder die Sehnsucht, wieder Fuß zu fassen, neu anzufangen, weiterzumachen, trotz alledem.
In Bereichen wie der Alten- und Krankenfürsorge sind die Ehrenamtlichen längst nicht mehr wegzudenken. In Zeiten extrem knapper Haushaltskassen der Kommunen sind sie es, die diese wichtige Aufgabe mit übernehmen müssen. Und damit Lücken staatlicher Belange schließen. In Deutschland sind 36 Prozent der Bürger ehrenamtlich aktiv, in Nürtingen ist es sogar jeder zweite. Wobei sich darin beileibe keine größere Affinität zum Politischen ausdrückt. In der heimlichen „Hauptstadt des Ehrenamts“ ist die Wahlbeteiligung bei Bundestags- oder Landtagswahlen in den vergangenen Jahren ähnlich gesunken wie an anderen Orten dieser Republik.
Selbst handeln und etwas Sinnvolles machen
Was treibt die Engagierten an? „Häufig ist es der ganz starke Wunsch, selbst zu handeln, etwas zu tun, was Sinn macht“, sagt Hannes Wezel. Der 58-Jährige mit der hohen Stirn und dem knitzen Blick hinter seiner Brille ist so etwas wie ein soziologischer Seismologe, einer, der Bewegungen, feine Risse oder Brüche in einer Gesellschaft wahrnimmt. Und Aufbrüche. Seit mehr als zwanzig Jahren fördert und betreut Wezel Freiwilligenarbeit. Er leitet den Bürgertreff in Nürtingen, ist inzwischen auch für den Städtetag in Baden-Württemberg tätig. „Man spürt, dass sich in diesem Land etwas ändert“, sagt er, „immer mehr Menschen wollen gesellschaftliche Realität selbst gestalten, aktiv und eigenverantwortlich.“
Die EU-Kommission hat 2011 zum „Europäischen Jahr der Freiwilligentätigkeit“ ausgerufen. Hannes Wezel geht in diesen Wochen immer wieder auf Tour. Als Ehrenamts-Experte begleitet er ein Team der Weinstädter Reportageagentur Zeitenspiegel, das in verschiedenen EU-Ländern innovative Freiwilligenprojekte recherchiert und dokumentiert. Die Niederlande, ein Stammland des bürgerschaftlichen Engagements in Europa, waren eine der ersten Stationen. In der 100.000-Einwohner-Stadt Deventer stieß Wezel auf ein Projekt, das ihn schwer beeindruckte.
Man fühlt sich fremd ohne einen Job
„Rechtop“ steht an dem weißen dreistöckigen Haus am Stromarkt. Es bedeutet „aufrecht“ – und zugleich „Recht auf …“ Die Männer und Frauen, die das Gebäude betreten, sind vor einiger Zeit aus dem „normalen“ bürgerlichen Leben gefallen. Weil sie ihren Job verloren. Jannes, 29, lange dunkle Haare, zauseliger Bart, ist seit acht Jahren ohne Arbeit, er hat keine Berufsausbildung. Bram, 21, der Fremde abwesend anlächelt, nach innen gekehrt, schlug sich bisher mit Gelegenheitsjobs durch. Er ist Autist. Gerrit, 53, verlor vor fünf Jahren seine Anstellung als Fahrlehrer, „man fühlt sich fremd ohne Job, und entfremdet“, sagt er.
Immer mehr Männer und Frauen betreten das Haus, setzen sich an einen großen Holztisch, der fast den ganzen Raum füllt. Sie besprechen die neuen Aufträge: Ältere Bürger von Deventer fragen an, ob man ihren Garten pflegen könne. Familien bitten darum, die Fahrräder der Sprösslinge zu reparieren. Auch Malerarbeiten sind geordert. Und für den nächsten Tag steht wieder das „Wandern“ mit den Bewohnern eines Pflegeheims an, ein festes Projekt, das an diesem Morgen auch noch vorbereitet werden muss. Die Langzeitarbeitslosen, Sozialhilfeempfänger und Geringverdiener verteilen selbst die Aufträge unter sich. Am Tisch sitzt zwar auch Violeta, die einzige Festangestellte in diesem Haus. Doch die 39-jährige Sozialpädagogin meint lächelnd: „Mich braucht man hier eigentlich nicht.“
Das ist das Besondere an diesem Projekt: Hier sind die Betroffenen sozialer Problematik nicht nur selbst die Freiwilligen, sondern bestimmen maßgeblich selbst, wie sie ihr Bürgerengagement gestalten. „Wir schauen immer, was die einzelnen Leute wollen. Sagt einer, er möchte zehn Stunden in der Woche hier arbeiten oder 40, dann ist all dies möglich“, erklärt Violeta. Insgesamt 150 Menschen nutzen dieses Ehrenamtsangebot. Sie tragen einen eigenen Titel: „Botschafter“. Kaffee und Kuchen, gespendet von den Auftraggebern, sind ihr Lohn.
In der alten Lateinschule von Deventer, die schon Erasmus von Rotterdam besucht hat, trifft Hannes Wezel sein holländisches Pendant. Hier hat Henk Kinds sein Büro. Der 60-jährige Gründer und Chef der Agentur Community Partnership Consultants (CPC) ist ein Pionier der Gemeinwesenarbeit. Seit Jahren berät er Einrichtungen und Initiativen des Bürgerengagements in den Niederlanden. Längst ist Kinds auch international vernetzt. „Gemeinwesenarbeit ist seit Langem so etwas wie ein roter Faden in den Niederlanden, ihre Methoden werden inzwischen bis in einzelne Stadtviertel oder in die Polizei hinein angewandt. Soziale Partizipation wird bei uns hoch geschätzt“, sagt er. Tatsächlich engagiert sich in Deventer fast die halbe Stadt ehrenamtlich, in insgesamt 900 verschiedenen Projekten und Initiativen, von Fahrradexkursionen bis zur Betreuung behinderter Menschen. In den Niederlanden unterstütze der Staat dezentrales Bürgerengagement seit vielen Jahren intensiv, sagt Henk Kinds.
Nach seiner Rückkehr aus Deventer ist das Notizbuch von Hannes Wezel vollgeschrieben. „Überall standen große Tische, an denen viele Menschen Platz haben, Platz, um zu reden und sich austauschen zu können.“ Das habe ihn sehr beeindruckt, sagt er. „Und dass Freiwilligenprojekte von unten kommen, eigenständig und selbst bestimmt.“ Wezel sinniert. „So etwas wie Rechtop möchte ich unbedingt hier umsetzen. Aufrecht und Recht auf – das ist es!“