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Archiv-Artikel

Den Tod billigend in Kauf genommen

PROZESS Landgericht Stade verurteilt Rentner wegen tödlicher Schüsse auf einen jugendlichen Einbrecher zu Bewährungsstrafe

Überraschendes Urteil in Stade: Das Landgericht verurteilte den passionierten Jäger Ernst B. fast vier Jahre nach den tödlichen Schüssen in den Rücken des 16-jährigen Einbrechers, Labinot S., nun doch wegen Totschlags zu neun Monaten Haft auf Bewährung. „Notwehr hat auch ihre Grenzen“, sagte der Vorsitzende Richter Berend Appelkamp und setzte sich über das Votum der Staatsanwaltschaft hinweg.

Die Anklagebehörde hatte für den heute 81-jährigen Rentner auf Freispruch plädiert. Auch wenn es objektiv keine Notwehr gewesen sei, habe B. in einer Belastungsreaktion aus purer Angst um sein Leben geschossen, so der Anklagevertreter. Labinot S. hatte am Abend des 13. Dezembers 2010 zusammen mit vier älteren Komplizen den Millionär B. nach einen Tipp einer Prostituierten in seiner Villa in Sittensen überfallen und ausrauben wollen. Als die Alarmanlage des Tresors losging, flüchtete das Quintett panisch – Ernst B. griff in eine Kommoden-Schublade nach einer Waffe und schoss Labinot S. mehrfach in den Rücken.

Der Fall müsse in Gänze betrachtet werden, sagte Richter Appelkamp in der Urteilsbegründung. Einerseits sei B.s Verhalten menschlich nachvollziehbar. „Der Angeklagte hatte Todesängste“, nachdem er am Morgen von einem Einbruch in der Gegend gelesen hatte, bei dem der Hausinhaber ums Leben gekommen war. Strafrechtlich gesehen sei sein Handeln aber überzogen gewesen, weil der Rentner ohne einen vorangegangenen Schuss der unbewaffneten Einbrecher geschossen habe. Er sei waffenkundig und hätte wissen müssen, dass er nicht auf den Oberkörper zielen dürfe, um die Einbrecher zu stoppen. „Er hat den Tod des Räubers subjektiv billigend in Kauf genommen“, so Appelkamp weiter. Bei den Familienangehörigen löste das Urteil Erleichterung aus. Ihnen sei es nicht um eine hohe Haftstrafe gegangen, sondern dass B. des Totschlags schuldig gesprochen werde. Damit geht womöglich das groteskeste Strafverfahren der niedersächsischen Justizgeschichte zu Ende. Die Frage, ob es sich um Notwehr oder Totschlag handelte, wurde von den Gerichten immer wieder anders beantwortet. Zunächst hatte die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen eingestellt, dann das Landgericht die Eröffnung einer Hauptverhandlung abgelehnt. Gegen beides hatten die Angehörigen des Opfers erfolgreich Widerspruch eingelegt. Das Oberlandesgericht Celle hatte den Stader Richter schließlich ein Verfahren mit Beweisaufnahme aufgetragen – ein Freispruch allein nach Aktenlage sei hier nicht vertretbar. KAI VON APPEN