: Grimmige Entschlossenheit
FILMFESTIVAL LISSABON Wiederkehrende Geschichten vom Scheitern an den Widrigkeiten des Kapitalismus: Das Festival Doclisboa entdeckt den Neorealismus Italiens wieder
VON SILVIA HALLENSLEBEN
Die Zentrale der portugiesischen Caixa Geral de Depósitos in Lissabon residiert in einem grotesk überdimensionierten Gebäude aus den 1990er Jahren, das wie ein brutalistische Neo-Art-Deco-Burg über dem umgebenden Stadtteil thront. Oben sitzt die Bank selbst. Doch einen Teil der unteren Geschosse um ein holzgetäfeltes Foyer und einen großen Veranstaltungssaal bespielt das öffentliche Kulturzentrum Culturgest mit Konzerten, Tanz oder Theater. Und einmal im Jahr ist hier das Hauptquartier des Dokumentarfilmfestivals Doclisboa. Es bespielt unter anderem das großzügige 50er-Jahre-Cinema São Jorge im Stadtzentrum und ein wunderschönes historisches Bibliotheksgebäude mit einer lauschigen Gartenbar als architektonisches Kontrastprogramm zum Hauptquartier.
Dieses Jahr ging das Festival in seine zwölfte Edition. Gegründet wurde es von der portugiesischen Dokumentarfilmvereinigung Apordoc, um in dem Land überhaupt eine Präsenz und ein Bewusstsein für dokumentarische Filmkultur jenseits des Fernsehens zu schaffen. Das ist in den letzten Jahren gelungen – mit ständig wachsendem Publikumszuspruch und einem Programm, das sich in mehreren Wettbewerben, einem knappen Dutzend Spezialreihen und gleich zwei Retrospektiven politisch und filmkünstlerisch auch selbstreflektiert positioniert. Dabei interessiert man sich nicht nur in einer ausdrücklich „Riscos“ (Risiken) benannten Sektion mehr für die sperrigen – und auch experimentellen – Grenzfälle und Außenposten des Dokumentarischen als für die orthodoxe Lehre oder den glatten Doku-Mainstream.
Überhaupt stehen seit einigen Jahren beim Nachdenken über Filme ja weniger kategoriale Zuschreibungen als die Übergänge und Schattierungen im Fokus, auch die zwischen fiktionalen und dokumentarischen Erzählformen. Ganz explizit betrieb Doclisboa solche Forschung dieses Jahr in einer Retrospektive, die einen filmhistorischen Bogen schlug von den klassisch neorealistischen Arbeiten aus dem Italien der Nachkriegsjahre quer durch die Jahrzehnte und Kontinente bis zu Adolfo Alix’ teildokumentarischem Film „Adela“ von 2008, in dem sich eine alternde ehemalige Starschauspielerin in einem philippinischen Slum durchschlägt. Gemeinsam sind den Filmen der Wille zur filmischen Realitätserkundung und die Aufbruchsstimmung gegen das aufwendige Studiounterhaltungskino.
Luchino Viscontis Film „La terra trema“ steht da neben Cristi Puius rumänischem Kleinkriminellen-Roadmovie „Marfa si Banii“ (2001), Vittorio De Sicas Komödie um einen verarmten ehemaligen Beamten („Umberto D.“, 1952) neben Lino Brockas „Manila in the Claws of Light“ (1975), in dem der Urvater des sozialrealistischen Kinos der Philippinen romantisch überhöhte Hoffnungen auf ein besseres Leben in der Stadt in Gewalt sterben lässt. Ähnlich erzählt Pedro Costas „Ossos“ 1987 in rohen, oft im Dunkel versinkenden Einstellungen von den alltäglichen Kämpfen einer Gruppe kapverdischer Binnenmigranten aus einer Zeit, als in Portugal die Aufbruchseuphorie nach der Nelkenrevolution von 1974 dem ernüchterten Blick auf die kolonialen Relikte wich.
Fortschreitend düster
Auch sonst hat sich die „realistische“ Filmsprache – und der Ton! – seit den 1950ern verschmutzt und verdüstert: Trotz aller neorealistischen Programmatik hatte De Sica „Umberto D.“ – auch weil es damals noch an der nötigen Tontechnik fehlte – komplett im Studio nachvertont und Michelangelo Antonioni die Fischer in seinem Dokumentarfilm „Gente del Po“ wie Stars ausgeleuchtet. Bei Pedro Costa ist es nicht nur düster, auch der Ton ist fast übersteuert; wenn seine Helden mit dem Bus in die Stadt fahren, meint man die Vibration zu spüren.
Auch die atmosphärische Tonlage der wiederkehrenden Geschichten vom Scheitern an den Widrigkeiten des kapitalistischen Wirtschaftslebens und an seinen Institutionen und Handlangern hat sich bis heute zur Hoffnungslosigkeit verdunkelt. Bei aller materiellen Armut und Ungerechtigkeit war das vom Faschismus befreite Nachkriegsitalien auch von einem Willen zum politischen Aufbruch bestimmt, der heute kräftig als Illusion gezeichnet wird.
Im krisengebeutelten Portugal sind die Themen der Filme und die Fragen, die sie aufwerfen, wieder höchst aktuell. Das lässt sich auch an der grimmig-dringlichen Entschlossenenheit spüren, mit der die Festivalleiter Cíntia Gil und Augusto M. Seabra ein höchst lebendiges Widerstandsnest im Privatisierungsdschungel betreiben. Am Freitag lancierten portugiesische Filmmenschen ihren Protest gegen krisenerzeugte Verschiebungen in der Filmförderung, die die Weichen in eine kommerziellere Richtung stellen, in eine Aktion auf dem Festival. Selbst die Mitglieder der bisherigen Förderkommission traten komplett zurück. So hofft man, den Kulturstaatssekretär unter Druck setzen und zu einem schnellen Eingreifen in positive Richtung bringen zu können. Der Ausgang ist offen.