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Archiv-Artikel

„Der Unmut wächst“

OCCUPY CENTRAL Der Aktivistenführer Benny Tai über das geplatzte Referendum, Ermüdungserscheinungen und China – das sei gesellschaftlich noch nicht so weit

Benny Tai Yiu-Ting

■ 50, Verfassungsrechtler an der University of Hong Kong und einer der Gründer der Aktivistengruppe Occupy Central with Peace and Love. Den Plan für die friedliche Besetzung des Finanzdistrikts entwarf er bereits im Januar 2013.

INTERVIEW FELIX LEE

taz: Herr Tai, sind Ihnen die Proteste außer Kontrolle geraten?

Benny Tai: Das kommt ganz darauf an, was Sie unter „Kontrolle“ verstehen. Wenn Sie damit meinen, dass jemand der Anführer ist und die anderen folgen ihm – das hat es von Beginn an nicht gegeben.

Sie und die Studentenführer hatten am Wochenende zu einer Befragung aufgerufen, wie es mit dem Protest weitergehen soll. Dann aber haben Sie das kurzfristig wieder abgesagt. Sind Sie sich intern uneins?

Sicherlich gibt es unterschiedliche Einschätzungen, wie lange wir die Blockaden noch weiter aufrechterhalten sollen. Doch grundsätzlich sind wir uns einig: Wir wollen unseren friedlichen Protest fortsetzen.

Aber wieso genau ist es zu der plötzlichen Absage der Befragung gekommen?

Die Hongkonger Führung hat in der vergangenen Woche zwei Zusagen gemacht: Sie werde in einem Bericht an die Zentralregierung in Peking die Haltung der Demokratiebewegung wiedergeben. Zudem schlugen sie vor, ein gemeinsames Komitee einzurichten, um über unsere politischen Forderungen zu sprechen. Wir fanden die Vorschläge sehr dünn, wollten aber kurzfristig unsere Anhänger online dazu befragen. Wir hatten aber eine Reihe von technischen Problemen übersehen und auch der Abstimmungsmodus war unklar. Deswegen die Verschiebung.

Die Verschiebung hat aber nicht damit zu tun, dass die Peking-freundlichen Anti-Occupy-Initiativen zur Teilnahme an Ihrer Umfrage aufgerufen haben? Laut Hongkonger Medien weiß diese mehr als 600.000 Unterstützer hinter sich.

Nein, zumal gar nicht klar ist, wie diese hohe Zahl an angeblichen Unterstützern überhaupt zustande gekommen ist. Aber ich gebe zu: Nach außen wirkt unser Vorgehen sehr unprofessionell. Wir haben nach dem voreiligen Beschluss aber unsere Lektion gelernt und sollten nicht für zu viel Verwirrung bei unseren Anhängern und in der Öffentlichkeit sorgen.

Gibt es nach den vier Monaten ununterbrochenem Protest Ermüdungserscheinungen in den eigenen Reihen?

Es gibt eine sehr starke Strömung, die sagt: Solange die Regierung nicht auf unsere Forderungen eingeht, sollten wir weiter auf der Straße bleiben. Selbst wenn wir unsere Forderungen nicht komplett durchsetzen können. Natürlich wissen wir, außerhalb der Protestbewegung wächst der Unmut und immer mehr Hongkonger fordern ein Ende unserer Blockaden. Das müssen wir auch ernst nehmen und jeden Tag aufs Neue in unsere Erwägungen einbeziehen.

Für welche Strategie plädieren Sie?

Mir ist klar, dass die Blockaden nicht ewig weitergehen können. Das halten wir allein körperlich nicht durch. Auch ich muss in diesen Tagen wieder meinem Job an der Uni nachgehen. Ich persönlich wünsche mir einen langsamen Übergang von einer Phase des aktiven Protests zu einer, in der wir unsere Botschaft in den Alltag tragen. Wir sind in den vergangenen Wochen zwar viele gewesen, bilden aber bei Weitem nicht die Mehrheit in Hongkong. Aus nicht repräsentativen Umfragen geht hervor, dass etwa die Hälfte der Stadt unser Vorgehen unterstützt, die andere aber nicht. Die wollen wir aber auch überzeugen. Ob wir die Blockaden jetzt schon beenden sollen – das hängt nicht zuletzt von der Regierung ab.

Aber was kann Hongkongs Regierung wirklich leisten?

Die Hongkonger Führung könnte ein nicht rechtskräftiges Referendum abhalten. Auch wenn Peking das Ergebnis nicht akzeptieren sollte, weiß die Welt, was die Mehrheit der Hongkonger wirklich will. Ich bin mir sicher, die große Mehrheit der Aktivisten würden die Straßen sofort freiräumen, sollte das Ergebnis anders ausfallen als wir erhoffen.

Der Stand der Proteste

■ Die Bewegung: Seit ziemlich genau einem Monat halten Tausende von Demokratieaktivisten Teile des Hongkonger Regierungsviertels und zwei zentrale Geschäftsviertel besetzt. Ein Ende ist nicht abzusehen. Denn die Regierung der südchinesischen Sonderverwaltungszone lehnt die Forderung der Demonstranten nach freien Wahlen des Regierungschefs ab 2017 weiterhin ab.

■ Die Gegner: Allerdings sehen sich die Aktivisten wachsendem Druck aus der Bevölkerung ausgesetzt, die Proteste zu beenden und die blockierte Straßen sowie Plätze zu räumen. Immer wieder kommt es zu handgreiflichen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und ihren Gegnern. Auch immer mehr Aktivisten zeigen sich entmutigt, weil keine Lösung in Sicht ist.

■ Die Befragung: Für das Wochenende hatten die Anführer der Proteste zunächst zu einem Referendum unter den Aktivisten über den weiteren Protestverlauf aufgerufen. Doch die Aktivisten sagten die Befragung kurzfristig ab. Man habe vorab nicht ausreichend Rücksprache mit den Bürgern gehalten, heißt es zur Begründung. Zudem habe es technische Probleme gegeben.

■ Die Geschichte: Das an der Südküste liegende Hongkong stand bis 1997 unter britischer Verwaltung und ist seit der Rückgabe an China eine Sonderverwaltungszone. Nach dem Prinzip „Ein Land, zwei Systeme“ werden den Bürgern, anders als in der Volksrepublik, Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit garantiert. Auch die Justiz ist in Hongkong unabhängig. (flee)

Herr Tai, in Hongkong gilt zwar ganz offiziell das Recht auf freie Meinung. Doch letztlich hat die kommunistische Führung in Peking das letzte Wort. Und die hat schon mal, im Jahr 1989, eine Demokratiebewegung blutig niedergeschlagen.

Ich vertraue dem Hongkonger Recht, das uns die fundamentalen Menschenrechte garantiert. Wenn wir Verhältnisse hätten wie in China, hätte ich einen solchen Protest gar nicht organisiert. Der Preis dafür im Gefängnis wäre zu hoch.

Die große Angst der KP-Führung in Peking ist aber, die Proteste in Hongkong könnten auch auf das restliche China überschwappen.

Dieses Szenario halte ich für unwahrscheinlich. Das Bewusstsein für eine freiheitliche Gesellschaft hat in Hongkong schon vor drei Jahrzehnten eingesetzt. China ist gesellschaftlich noch nicht so weit. Und ich meine damit keineswegs nur die Menschen auf dem Land. Auch die Menschen in den Städten haben vom Konzept einer wirklichen Demokratie nur vage Vorstellungen. Sicherlich gibt es einige Intellektuelle, die unsere Werte teilen. Aber ohne den Schutz eines Rechtsstaats haben diese Menschen kaum eine Chance und sind den Repressionen der chinesischen Führung ausgesetzt. Eine solche Bewegung, wie wir sie derzeit in Hongkong haben, halte ich in China derzeit nicht für möglich.

Aber kann sich ein solches Bewusstsein in China nicht entwickeln?

Nein, zumindest nicht in den nächsten 15 Jahren. Ich kann aber nicht sagen, was danach kommt.