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Archiv-Artikel

Wie das Gesicht ihrer Bewohner

FOTOGRAFIE Nicht nur der graue Himmel bleibt in Erinnerung von den schwarzweißen, aber auch farbigen Istanbul-Fotos des großen Ara Güler, dem das Willy-Brandt-Haus eine Retrospektive widmet

VON JENS UTHOFF

Das Grau liegt irgendwo zwischen dem Schwarz und dem Weiß. So viel scheint immerhin sicher. Um das Werk des Fotografen Ara Güler zu verstehen, hilft es, wenn man sich eine Skala vom puren Weiß bis zum schwärzesten Schwarz vorstellt. All die Zwischenstufen sind die Klaviatur, auf der Güler, zumeist mit seiner Leica, spielt. Hat man einige seiner Fotografien gesehen, so meint man, niemand habe jegliche feinste Nuance dazwischen besser festgehalten als er.

Güler hat vor allem das Schwarz, das Weiß und die Graustufen seiner Heimatstadt Istanbul verewigt: die auf dem Bosporus schippernden Kähne vor den rauchenden Schloten. Die Schneeflocken, die die Straßenbahnen kreuzen (und nicht umgekehrt). Die schäkernden Kinder in den Gassen dieser Stadt.

„Das Istanbul meiner Kindheit habe ich wie ein Schwarzweißfoto erlebt, als halbdunklen, bleigrauen Ort, und so habe ich es bis heute in Erinnerung“, schrieb der türkische Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk, dessen Buch „Istanbul – Erinnerungen an eine Stadt“ auch von Gülers Fotografien illustriert wurde. In Gülers Bildern, so sagte Pamuk, sehe die Stadt „so melancholisch aus wie das Gesicht ihrer Bewohner“. Fragt in vier, fünf, sechs Jahrhunderten mal einer nach dem Istanbul des 20. Jahrhunderts, kann man nur hoffen, dass vor allem die Schwarzweißaufnahmen Gülers die Zeit überdauert haben.

Die Retrospektive, die derzeit im Willy-Brandt-Haus zu sehen ist, widmet sich in aller Ausführlichkeit der Metropole am Goldenen Horn, wurde die Schau doch anlässlich des 25. Jubiläums der Städtepartnerschaft zwischen Berlin und Istanbul ins Programm genommen. Der Kurator Hasan Senyüksel und der Freundeskreis des Willy-Brandt-Hauses haben über 200 Fotografien dafür ausgewählt.

Güler wurde als Sohn einer armenischen Familie im Stadtviertel Beyoglu geboren, inzwischen ist er 86 Jahre alt; zur Ausstellungseröffnung vor zwei Wochen war er in Berlin zu Besuch. Er ist heute der bedeutendste Fotograf der Türkei, fotografierte seit den 1950ern für die Tageszeitung Yeni Istanbul, in den großen Zeiten des Magazinjournalismus auch für Time, Life, den Stern und Paris Match. In der Türkei wurde er 1999 als „Fotograf des Jahrhunderts“ ausgezeichnet. Die großformatigen Bilder im Lichthof sowie weitere Fotografien in der Ausstellung im zweiten Stock widmen sich der 15-Millionen-Stadt, auch einige Farbfotografien sind dort zu sehen. Gülers Farbaufnahmen der Stadt sind kaum bekannt – sie erscheinen einem mit ihren starken Kontrasten beinahe surreal.

Des Weiteren gibt es eine Ecke mit politischen Fotografien, bei denen Aufnahmen von Demonstrationen auf der Galata-Brücke im Jahr 1960 und vom 1. Mai 1977 zu sehen sind, als beim damaligen Taksim-Massaker 18 Menschen starben. Ein weiterer Teil widmet sich ländlichen Aufnahmen aus der Türkei und aller Welt – hier kann man einmal mehr den großen Farbfotografen Ara Güler entdecken, der einem vielleicht noch nicht so geläufig war. Bekannter sind die Schwarzweißporträts, darunter seine berühmten Fotografien Hitchcocks und Picassos, die an den Stellwänden zu sehen sind.

Am deutlichsten prägt sich aber das mal trübe und triste, mal verschwimmende, dann wieder verschwindende Grau vor dem Himmel über Istanbul ein. Immer wieder ist die Galata-Brücke zu sehen, immer wieder kreisen Möwen über dem Wasser oder werden aufgescheucht. Immer wieder schauen große aufgerissene Kinderaugen in die Kamera. Die Wohnhäuser scheinen die Anhöhen hinaufzuklettern. Die Süleymaniye Camii (Süleymaniye-Moschee) thront über der Stadt, sie wurde im Osmanischen Reich des 16. Jahrhunderts vom Architekten Mimar Sinan errichtet, dessen Bauten Güler sich in den frühen 90ern widmete; mehrere Fotobände sind daraus entstanden.

Manches stört an dieser Ausstellung. Ein oder zwei Themenspektren weniger wären durchaus sinnvoll gewesen, man hätte auch die Gesamtzahl der Fotografien etwas reduzieren sollen – manchmal bekommt Güler nicht den Raum, den er braucht. Und gerade bei den nicht so kontrastreichen Fotos fällt auf, dass es sich nicht um Abzüge auf Fotopapier, sondern um Digitaldrucke handelt, was bei einem Fotografen der Graustufen ins Gewicht fällt. Dennoch wird hier der große Fotograf Ara Güler adäquat gewürdigt: In der Schau des großen Melancholikers aus der türkischen Metropole kann man eine gute Zeit verbringen.

■ Ara Güler – Fotografien 1950–2005. Das Auge Istanbuls. Bis 15. Januar 2015 im Willy-Brandt-Haus. Dienstags bis sonntags 12 bis 18 Uhr. Eintritt frei