Der die Suppe besiegte

Immer dieser Immendorff: Er malt, kokst und stirbt, dass selbst die „Bild“ kaum hinterherkommt. Doch jetzt hat der Tod des Künstlers sein Werk ganz unvermutet in der norddeutschen Provinz erwischt: im niedersächsischen Oldenburg, wo gerade die einzige Schau mit seinen Arbeiten gezeigt wird

aus Oldenburg HENNING BLEYL

Was haben Kartoffeln mit Kunst zu tun? Bei Jörg Immendorff viel. Eigentlich alles. Sie kullern durchs Bild, sind immer zur Hand, stehen in Körben bereit – „das Bild muss die Funktion der Kartoffel übernehmen“, hat der Maler programmatisch festgelegt. Irgendwie muss ja auch der Spiegel mal recht haben, wenn er Immendorff als „großen deutschen Bildersetzer“ betitelt.

Derzeit nährt Immendorffs knollige Kunst das Oldenburger Publikum. Für das dortige Horst-Janssen-Museum ist die Schau ein Glücksfall: Durch den Hausheiligen ist man auf Grafik abonniert, also oftmals Kleinformatiges in 50 Lux-Dämmerung, um das Papier zu schonen – Eyecatching geht anders. Zum Beispiel mit Immendorff. Dessen Druckgrafik ist vom immenser Farbigkeit. Da gibt es 2,40 mal 1,50 Meter messende Bögen, deren überbordendes Personal voller zeitgeschichtlicher Bezüge steckt.

Drei Tage nach der Eröffnung ist Immendorff an seiner amyotrophen Lateralsklerose gestorben. Der Zufall hat Oldenburg zum Ort der derzeit einzigen Immendorff-Schau gemacht – und wie reagiert das Haus? Wiederum zufällig: In zehn Tagen veranstaltet man ein „Totentanz-Konzert“. Es ist seit vielen Monaten geplant und bezieht sich, wie könnte es anders sein, auf Horst Janssen. Der hat einen Flügel mit Totentanz-Motiven bemalt und außerdem ein schönes Zitat hinterlassen: „Mutwillig geboren, sinnlos glücklich gelebt um in maßloser Wut zu sterben.“ Die Hannoveranerin Tatjana Prelevic hat das zu einem Duo für Viola und Klavier inspiriert, die Oldenburger Komponistin Violeta Dinescu steuert mit „Zorile de afara“ ebenfalls eine Uraufführung zum Thema Tod bei.

So weit, so passend. In der Ausstellung selbst endet die Immendorff’sche Vita noch mit „lebt und arbeitet in Düsseldorf“, aber neben dem Eingang ist ein Kondolenzbuch gelegt. Viel steht noch nicht drin. Die Anteilnahme spürt man eher in der etwas abseits gelegenen Video-Ecke: Da drängt sich eine Gruppe vor dem Großbildschirm, auf dem Gero von Boehm mit seiner etwas seifigen Art Immendorff zu einer Art Lebensbeichte verleitet. Ältere Damen seufzen empathisch, als der Maler von seiner Reue gegenüber der Familie spricht, die unter seinen sexuellen Sünden – beziehungsweise dem medialen Interesse an ihnen – zu leiden hatte.

Zurück zur Kunst: Nachdem Immendorffs malerisches oder auch bühnenbildnerisches Werk lange im Vordergrund stand, gibt es jetzt erstmals einen kompletten Überblick über Immendorffs serielle Produktionen inklusive ihrer simpelsten Form, dem Stempel. Das Janssen-Museum hat sich an der Herausgabe eines druckgrafischen Katalogs beteiligt, in dem 220 dieser oft comichaften Signets gesammelt sind: vom röhrenden Hirsch über die unvermeidlichen Affen bis zu scherenschnittigen Fingerspielen. Daraus rekrutiert sich ein Symbol-Arsenal, das Immendorff in viele seiner malerischen und grafischen Arbeiten einbezogen hat. Die Ausstellung beschränkt sich auf eine sehr enge Auswahl, darunter der „LIDL“-Stempel. Unter diesem Label entwickelte Immendorff seine dadaistischen Aktionen, etwa den Papieranbau an den Bundestag, versehen mit der Inschrift: „Ich halte mich als Verteidigungsminister bereit“.

Immendorff senior, Berufsoffizier, war wenig amused. Aber stärker geprägt hat seinen Sohn, der bereits mit 19 zum Beuys-Schüler wurde, ohnehin der Großvater. Der bestand darauf, dass der kleine Jörg auch ohne Appetit stets den Teller leerte, wodurch der Junge seine Liebe zu Bildern entdeckte: Er habe, erzählt Immendorff, „die Suppe besiegt“, in dem er sich darauf konzentrierte, das Motiv auf dem Tellerboden freizulöffeln.

Es ist bemerkenswert, dass Oldenburg auch einen originären Beitrag bietet: Den im Stadtarchiv entdeckten Kupferstich-Zyklus „A Rake’s Progress“ aus dem 18. Jahrhundert von William Horgarth. Dessen moralisierende Blätter zeigen den Niedergang eines jungen Mannes inklusive aller dazugehörigen Ausschweifungen. Immendorff hat das Thema vielfach übernommen, auch als Bühnenbildner bei den Salzburger Festspielen, wo er Strawinskys Version mit Inbrunst bebilderte. „Ich habe mich selbst in die Rolle des Wüstlings hineingefressen“, sagt Immendorff – die gestalterischen Ergebnisse gehören zu den stärksten Exponaten der Oldenburger Ausstellung.

Die Buchstützen gehören nicht dazu. Immendorff hat sie in Affenform gestaltet, und mehr noch als von dreidimensionalen Künsten zeugen sie von seiner Medienverbundenheit. Die limitierte Stützen-Auflage entstand exklusiv für die AbonnentInnen der Zeit. Für die FAZ fungierte Immendorff als „Kluger Kopf“, aber die intensivste Verbindung ging er mit Bild ein. In der Oldenburger Ausstellung ist diese Connection nicht zu übersehen, sie wurde schließlich auch bei höchstkulturellen Ereignissen wie der Verleihung des Goslarer „Kaiserrings“ gewürdigt. An der Museumswand ist ein Teil der Laudatio festgehalten: „Schon lange [vor dem „iconic turn“] hatte Jörg Immendorff bemerkt, dass die einflussreichste Zeitung in Deutschland nicht Wort, sondern BILD heißt.“

Deren Chefredakteur Kai Diekmann bezeichnete sich gern als regelmäßiger Gast in Immendorffs turnhallengroßem Düsseldorfer Atelier, der Maler wiederum lieferte alles, was sich das Blatt nur wünschen konnte: ein Gemälde für die LeserInnen, die Tragik des unabwendbaren Todes, die sehr späte Hochzeit mit einer sehr jungen, sehr schönen Frau. Und die „Schlimmste Sex-Orgie des Jahres“, wie Bild anlässlich der Immendorff’schen Kokain-Session „mit neun Huren“ in einer Hotelsuite im Jahr 2003 titelte. Die tagelange Ausschlachtung des Skandals hielt Immendorff nicht davon ab, zwei Jahre später mit derselben Zeitung eine Bibel herauszubringen.

Jetzt liegt der 1.000-Seiter, illustriert mit 25 Immendorffs, auf dem Tresen des Janssen-Museums und harrt der Besucher. Durch den Tod des Malers sei der Zustrom durchaus gestiegen, sagt der Mann an der Kasse. Die Heilige Schrift, obgleich mit 19,50 Euro nur halb so teuer wie die derzeitige Papstausgabe der Bild, hat sich trotzdem noch nicht zum Verkaufsschlager gemausert. In Düsseldorf ist das anders: Die Todesnachricht löste einen regelrechten Ansturm auf die Immendorff-Werke aus, die die dortige „fiftyfifty“-Galerie verkauft – zugunsten der Obdachlosenhilfe. Auch in dieser Form sind sie nahrhaft.

Jörg Immendorff, 80 druckgrafische Werke: bis zum 26. August, Horst-Janssen-Museum, Oldenburg

Fototext:

Immendorff’sche Selbstinszenierungen: Oben als „Der Trinker“ (Siebdruck, 1997), rechts mit Kneipen-Shirt und knolligem Lieblingsmotiv. Denn das Bild „muss die Funktion der Kartoffel übernehmen“  Abb.: Janssen-Museum