theorie und technik
: In der Sommerfrische

Der Entdeckerblick sieht in einem armen Fischerdorf die Freiheit – Grundlage für unser „Sommer auf dem Land“-Gefühl

Die Berliner Ausstellung zeigt mal wieder: Die französischen Impressionisten erfreuen sich anhaltender Beliebtheit. Denn sie waren es, die uns die Urszene vom „Sommer auf dem Land“ geliefert haben. Jene modellhaften Bilder, die noch immer prägend für das Lebensgefühl „Sommerfrische“ sind.

Was aber ist dieser Topos vom Sommer auf dem Land eigentlich? Er ist weder Erlebnisurlaub in der Natur. Denn dieser will die Stadt – als Ereignis, Abwechslung, Geschwindigkeit – importieren. Er ist aber auch nicht der Versuch, das Landleben zu imitieren, wie der Ausstieg auf Zeit, den frühere Kohorten probiert haben. Und er ist natürlich das Gegenteil einer Fernreise, bei der es ja darum geht, jemand ganz Fremder zu sein. Nein, Sommer auf dem Land bedeutet, städtisches Leben auf dem Land. Es bedeutet, derselbe zu sein – aber unter anderen Bedingungen.

Grundlage dieses Topos ist – ein Blick, ein Entdeckerblick. Nicht solch einer, der etwas entdeckt, was schon da war. Nein, es ist jener Blick, der etwas entdeckt, was es vorher noch nicht gab. Er sieht etwa in einer Abbruchgegend einen Freiraum oder eben in einem armseligen Fischerdorf die Freiheit.

Die Entdeckung des Schönen, des Authentischen oder des Einfachen hatte und hat etwas Avantgardistisches, indem sie Bedeutungen erfindet. Sie entspricht einer Aufladung, einer Mythologisierung im Sinne Roland Barthes. Der avantgardistische Blick lässt einen symbolischen Raum entstehen, und die Nachträglichen können daran partizipieren. Im Falle der Sommerfrische heißt das: Wir suchen diesen vorgefertigten Blick aufs Landleben – nicht das Landleben selbst. Wir suchen dessen paradigmatische Bilder.

Also fuhr ich nach Hiddensee – Ostseestrandbäder sind ja derzeit sehr en vogue –, zum ersten Mal seit zwölf Jahren. Hiddensee war genau das – eine autolose Fischerinsel und eine Sommerkolonie für Künstler: ein Objekt und ein aufladender Blick. Ein Raum für das Geistesleben auf dem Land, das nur im Sommer eine Symbiose eingeht. Es war ebenso ein Ort der Einfachheit wie die Verlängerung des Salons in den Garten. Zu DDR-Zeiten wurde diese Aura im Modus der Verschwiegenheit gewissermaßen aufbewahrt.

Und was ist Hiddensee heute? Heute ist es touristisch, kommerzialisiert auf eine besondere Art. Noch immer gibt es keine Autos und keine Massenhotels. Es ist nicht Mallorca oder Ibiza. Nur Reetdach-Häuser (wobei sich nunmehr zu den Reetplattenbauten die Reetdach-Fertigteilhäuser gesellen – so hinterlässt jede Zeit ihre Spuren). Man könnte meinen, die Insulaner haben den Charme ihrer Insel bewahrt, und doch hat eine tief greifende Kapitalisierung stattgefunden. Man hat aus den Fehlern der 70er-Jahre gelernt – und vermarktet nun das, was die eigene Besonderheit war: das Leben gegen die Kommerzialisierung. Man verkauft den Genuss am Landleben, den exemplarische Personen vorgelebt haben. Man vermarktet eine Erinnerung – die Erinnerung an ein Lebensgefühl, das es vielleicht so gar nicht gegeben, das aber wirkungsvolle Bilder produziert hat. Überall findet man hier deren Devotionalien, solche industrialisierten madeleines, die anders als bei Proust nicht mehr Erinnerungen auslösen, sondern nur mehr deren massenhaft reproduzierte Fetische sind.

Hiddensee ist heute die Vermarktung einer Lebenssehnsucht, einer Mythologie vom Leben auf dem Land. Hier werden überall Vergangenheitsbilder evoziert – einfache, wie der Fischer als Authentizitätsgarantie, oder elegante, wie jener Mann, der täglich gegen 17 Uhr, mit Strohhut, Nickelbrille und altmodischem Anzug angetan, auf einem alten Waffenrad durch die Straßen der Insel fährt. Egal, ob die Gemeinde ihn als wandelnden Gerhard Hauptmann engagiert hat oder ob er freiwillig die Rolle der Staffage in dieser Szenerie übernommen hat – Hiddensee hat die Reproduktion von Lebensformen zu einem Geschäft gemacht. (Wie kostbar dieses Gut ist, zeigt sich nicht zuletzt an den Preisen.)

Dieser Kommerzialisierung haftet jedoch etwas Paradoxes an, wird doch gerade das, was hier verkauft wird, eben dadurch auch zerstört: die Masse auf der Suche nach etwas, was sich gerade durch die massenhafte Präsenz auflöst. Die Bilder vom Leben auf dem Lande werden hier nur als Ware reproduziert. Man kann herkommen und die Bilder solch einer Lebensweise konsumieren, aber genau das verunmöglicht es, diese Lebensform nachzuleben. Wir wissen, wir können nur die Blicke nachstellen, die eröffneten symbolischen Räume bevölkern. Solch einer Überbevölkerung aber wie auf Hiddensee halten diese nicht stand: Mit ihrer Vermarktung lösen sie sich auf. ISOLDE CHARIM