: Ukraine läuft die Zeit davon
Donbass Die Wahlen wurden gefälscht, trotzdem spiegeln sie die Stimmung in der Region wider. Denn die Mittelständler und Moderaten sind geflohen
■ ist freier Journalist und Übersetzer aus dem Ukrainischen. Er lebt in Lemberg. Für die Übersetzung von Serhij Schadans Roman „Die Erfindung des Jazz im Donbass“ erhielt er 2014 den Brücke Berlin Literatur- und Übersetzerpreis.
Die Wahlen in den sogenannten „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk waren eine Farce. Bewaffnete Männer standen in den Wahllokalen und auf den Straßen. Es gab weder Wahllisten und keine Wahlbeobachter, nur europäische Rechtsextreme waren zugegen. Diese haben für ihre Mission sogar den wohlklingenden Namen “Agentur für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ (ASZE) kreiert. Die Verwechlung mit der OSZE ist gewünscht.
Für die Wähler gab es billige Kartoffeln und Zwiebeln. Da war man in der Sowjetunion, der viele Wähler im Donbas nachtrauern, noch einfallsreicher. Da konnte man selbst in den Krisenzeiten im Buffet des Wahllokals ein Brötchen mit Lachs oder Kaviar kaufen. Allerdings herrschte damals auch kein Krieg.
Angst oder Opportunismus?
Kiew hat diese Farce selbstverständlich nicht anerkannt. Auch die Europäische Union und die USA nicht. Und alle, einschließlich der UN, hatten darauf verwiesen, das die „Wahlen“ ein klarer Verstoß gegen die Vereinbarungen von Minsk sind. Nur Russland will sie anerkennen. Und prompt verkündeten die Separatisten, dass der Donbas nicht mehr Teil der Ukraine ist.
Wir werden nie erfahren, wie viele Wähler tatsächlich für die „Volksrepubliken“ und ihre Separatistenführung ihre Stimmen abgegeben haben. Wie viele dies aus Angst oder Opportunismus gemacht haben. Wie werden nie wissen, wie stark das Endergebnis manipuliert wurde. Doch das Paradoxe an der Situation ist: Trotzdem spiegeln die „Wahlen“ im Großen und Ganzen die tatsächliche Stimmung in dieser Region wider, erst recht mehrere Monate nach dem Ausbruch des Krieges, den die ukrainische Staatsführung bisher immer noch stur als „Antiterroreinsatz“ bezeichnet.
Niemand weiß genau, wie viele Flüchtlinge ihre Heimatorte mittlerweile verlassen haben. Die unabhängigen ukrainischen Experten schätzen nur die Zahl der Binnenflüchtlinge auf mehr als 400.000. Unklar bleibt, wie viele sich mittlerweile nach Russland abgesetzt haben.
Unter den ersten, die ihre Häuser verließen, waren die Mittelständler. Sie hatten etwas zu verlieren, sahen mit immer stärkerer Sorge nach den ersten Gebäudebesetzungen durch Separatisten im Frühling, wie bedrohlich sich die Lage zuspitzt. Wie die Unternehmer erpresst, die Autos beschlagnahmt und der Hass immer größer wurde. Sie waren vielleicht nicht ausgesprochen proukrainisch, es war aber der aktive Teil der Bevölkerung, der an Regeln und Ordnung interessiert war.
Auch die proukrainischen Mitbürger mussten die Region verlassen, für sie wurde es viel zu gefährlich. Somit stieg der Anteil der prorussisch oder – besser gesagt – nostalgisch prosowjetisch orientierten Bürger, der in der Region ohnehin recht hoch war, noch einmal deutlich an.
Reich der Korruption
Der Donbas war schon immer eine besondere Region und eine explosive Mischung. Er wurde mit der einsetzenden Industrialisierung erst im 19. Jahrhundert besiedelt. Für schwerste Arbeit unter Tage kamen Menschen aus ganz Russland und später aus der Sowjetunion in den Donbas. Bereits in der Zarenzeit wurden Kriminelle in die Gruben geschickt, um durch Arbeit eine „Umerziehung“ zu erfahren, Stalin setzte diese Politik fort. Nirgendwo sonst wurden die Verteilungskämpfe in den 1990er Jahren so skrupellos und mit so viel Blut und so vielen Toten ausgetragen wie hier.
Nirgendwo sonst ist die Kluft zwischen Arm und Reich so groß wie im Donbas. Es ist das Land der Oligarchen, das Imperium des immer noch reichsten Ukrainers Rinat Achmetow hat hier ihren Ursprung. Und es ist das Land der verarmten Industriearbeiter und Arbeitslosen, die nach Grubenschließungen keinen Job mehr finden konnten. Die Region war bis zum Ausbruch der separatistischen Bewegung der größte Kohle- und Stahlproduzent in der Ukraine und gleichzeitig der größte Nettoempfänger aus dem ukrainischen Haushalt. Alleine in die Kohlebranche flossen jährlich rund 1,6 Milliarden US-Dollar. Wo diese Gelder landeten, weiß niemand. Auf jeden Fall wurden sie nicht in die Modernisierung der extrem gefährlichen Gruben und in die Verbesserung der Arbeitsbedingungen investiert.
Sieg der Sowjetnostalgie
Die Distanz zu Kiew war hier immer riesengroß, und die Loyalität zu Zentralregierung stand oft nur auf dem Papier. Auch wenn die Separatisten mit massiver russischer Unterstützung nur etwa ein Drittel von Donbas kontrollieren und Kiew dort auf absehbare Zukunft keinen Einfluss mehr zurückgewinnen kann, wäre es aus ukrainischen Sicht fatal, nur auf militärische Kontrolle der anderen Teile von Donbas zu setzen. Es wäre sehr wichtig, die Bevölkerung dort für sich zu gewinnen und deren tiefes Misstrauen zu besiegen. Das kann man aber nur dann erreichen, wenn man auf die Menschen zugeht und deren Bedürfnisse im Auge behält. Die jüngsten Parlamentswahlen haben gezeigt, dass die Politik immer noch weit davon entfernt ist. Im ukrainischen Teil von Donbas haben sich bei den Wahlen wieder fast ausschließlich Vertreter der alten regionalen „Eliten“ durchgesetzt, der Wahlkampf wurde mit alten Methoden geführt, hohle Versprechen haben wieder die realen Taten und Programme verdrängt.
Auch in Kiew selbst hat man sich von alten Mustern nicht verabschiedet. Kaum einen Sieg errungen, fangen die proeuropäischen Kräfte wieder untereinander zu streiten. Das schwindende Vertrauen in Präsident Petro Poroschenko verhalf der Partei des Premierministers Arsenij Jazeniuk zum Wahlsieg. Wie es so oft in der ukrainischen Politik vorkommt, wird Poroschenko durch gewonnene Direktmandate trotzdem die größte Fraktion bilden können. Der Machtkampf ist programmiert. Es ist ein gefährliches Tauziehen in einer Situation, wo es gilt, alle Ressourcen zu mobilisieren, um das Land aus der Krise zu retten sowie dem schleichenden Separatismus und der russischen Aggression erfolgreiche Reformen entgegenzusetzen.
Zwar sind auch junge Aktivisten und Reformer ins neue Parlament eingezogen, doch großen Einfluss werden sie dort nicht haben. Viel Zeit hat das Land nicht mehr – ohne tiefgreifende Veränderungen hat es einfach keine Zukunft. JURI DURKOT