Die Grenzen der Transparenz

DATEN Hacking als Performance – Nathan Andrew Fain stellte sich in Gießen Theaterwissenschaftlern vor

Die Passwörter der eingeloggten Zuschauer hatte Fain innerhalb von Sekunden geknackt

Die Welt wird von Algorithmen beherrscht. Smartphone-Apps organisieren unser Sozialleben, das Weltgedächtnis Google filtert unser Wissen, und die persönliche Browser-History ist längst ein Spiegel der eigenen Identität. Die technischen Prozesse dahinter verstehen eigentlich nur Experten. Oder Hacker, deren Macht in Zeiten der computerisierten Kolonisierung des Alltags nicht überschätzt werden kann.

Der Hacker Nathan Andrew Fain ist einer der wenigen, die ihren Wissensvorsprung bereitwillig teilen. Am Sonntag war Fain zu Gast beim „Diskurs Festival“ des Gießener Instituts für Angewandte Theaterwissenschaften (ATW): Bis Dezember sind jeden Sonntag Künstler eingeladen, aktuelle Arbeiten zwischen 12 und 24 Uhr vorzustellen. Das Konzept der Initiatorinnen Carina Premer und Rahel Kesselring rückt den namensgebenden Diskurs in den Mittelpunkt. „Wir wollen vor allem einen Raum mit genügend Zeit und ein gleichberechtigtes Miteinander von Publikum und Künstler schaffen“, sagt Premer. Die kritische Reflexion des eigenen Schaffens, das ist das, was beim ATW-Studiengang seit jeher zentral ist.

Rund 30 Besucher sind zur „Probebühne 2“ am Stadtrand gekommen, wo der Charme eines wüstenhaften Gewerbegebiets auf eine graue Novembertristesse trifft. Es gibt Filterkaffee, selbst gebackene Cookies und jede Menge kryptische Vokabeln, für die sich der US-Amerikaner immer wieder, nicht ohne zu schmunzeln, entschuldigt. Er, so betont er an diesem Tag immer wieder, sei keiner dieser Liberalen, die die Befreiung der Menschheit allein in der digitalen Technik sieht. Doch er ist überzeugt, dass es im Internet Räume für eine Zivilgesellschaft geben muss, die nicht von der Politik der Unternehmen wie Facebook kontrolliert werden.

Fain bezweifelt die Wirkung von Projekten wie „Tweet for World Peace“, die ihm zufolge lediglich von wirklicher Verantwortung befreien, nicht aber das Potenzial des Zusammenschlusses vermeintlich machtloser Individuen zu mächtigen Gemeinschaften haben. Er setzt dabei vor allem auf subversive Technologien. „Das ist eine meiner neuen Webseiten“, sagt Fain und deutet auf die an die Wand projizierten Gesichter des Wikileaks-Gründers Julian Assange und des syrischen Diktators Assad. Es ist eine „Assassination Page“, auf der man mit Geld auf den Todeszeitpunkt einer beliebigen Person wetten kann. Das sei zwar ein Fake, wie Fain später erklärt, doch gebe es längst echte Vorbilder.

In „Anonymous P.“, einem vor Kurzem in Zürich uraufgeführten Stück von Rimini Protokoll, ehemals Absolventen der ATW Gießen, bei dem Fain mitwirkt, geht es um die Grenzen der Transparenz. Die Zuschauer sind aufgerufen, persönliche Daten preiszugeben, von der Neigung, fremdzugehen bis zur politischen Gesinnung. Die daraus erstellten Profile werden dann auf eine Leinwand projiziert, was die vielbeschworene Transparenz bis zur Selbstentblößung pervertiert. Ein Schauereffekt, der sich auch kurz unter den hiesigen Anwesenden einstellt, als Fain plötzlich die persönlichen Browser-Historys aller Anwesenden, die sich ins lokale W-LAN eingeloggt haben, präsentiert.

In der Entropie abtauchen

Die Passwörter? Hatte er innerhalb von Sekunden geknackt. Bereits einige Tage zuvor sorgte er mit einem Hack der Festival-Webseite für Unbehagen. Dort erhielt jeder Besucher ein automatisches „Google-Cleansing“, bei dem ein Programm die persönliche Google-History mit tausenden Suchanfragen von teilweise politisch wie moralisch fragwürdigen Themen füttert.

In einem Zeitalter, in dem alles gespeichert und nichts mehr gelöscht werden kann, so argumentiert Fain, sei diese selbst erzeugte Entropie, also die zum Chaos führende Anhäufung von Daten, einer der wenigen verbliebenen Möglichkeiten, das stets sichtbare Selbst zumindest annähernd zu verschleiern. Es ist dieser pragmatische Ansatz zwischen Hacking, Performance und Sozialkritik, die Fains Arbeiten so interessant macht. Und was die Besucher beim abschließenden Dinner trotz Erschöpfung optimistisch stimmt.

PHILIPP RHENSIUS