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Archiv-Artikel

Karlsruhe macht freiwillig Überstunden

JUSTIZ Die Verfassungsrichter prüfen EU-Maßnahmen, obwohl sie dafür gar nicht zuständig sind. Die Konkurrenz mit anderen Gerichten beflügelt

Kläger haben das „Sesam öffne dich“ für Karlsruhe entdeckt

AUS KARLSRUHE CHRISTIAN RATH

Armes Bundesverfassungsgericht. Eigentlich sind die Richter völlig überlastet. Jüngst haben sie sogar die Einführung einer verschärften Missbrauchsgebühr gegen unnütze Klagen vorgeschlagen. Und dann kommen immer noch diese europäischen Großverfahren hinzu, die Karlsruhe wochen- und monatelang in Beschlag nehmen.

Doch letztlich machen die Richter bei den EU-Verfahren freiwillige Überstunden. Ob sich EU-Recht in den Grenzen der EU-Verträge hält, muss eigentlich der Europäische Gerichtshof (EuGH) prüfen, dem Karlsruhe aber noch nie ein Verfahren vorgelegt hat.

Auch die Prüfung von EU-Recht am Grundgesetz kann das Verfassungsgericht nur vornehmen, indem es zu einem Trick greift. Denn eigentlich können gegen die deutschen Zustimmungs- und Umsetzungsgesetze laut Grundgesetz nur Landesregierungen oder ein Viertel der Bundestagsabgeordneten klagen – die das aber nicht tun. Um solche Gesetze dennoch prüfen zu können, akzeptiert Karlsruhe auch Verfassungsbeschwerden von einzelnen Bürgern. Diese machen geltend, dass ihr Wahlrecht zum Bundestag entwertet wird, wenn neue Kompetenzen auf die EU übergehen. Diese nicht sehr naheliegende Argumentation hat Karlsruhe 1993 erstmals akzeptiert, seither tragen dies alle Kläger vor – als „Sesam öffne dich“ zum Verfassungsgericht.

Karlsruhe nimmt so die Rolle eines Oberaufsehers der EU ein, die nationalen Verfassungsgerichten eigentlich nicht zusteht. Denn die EU könnte nicht funktionieren, wenn sie sich stets noch an den – natürlich unterschiedlichen – Rechtsauffassungen von 27 Verfassungsgerichten orientieren müsste.

Bisher hat das Bundesverfassungsgericht seine Gouvernanten-Rolle eher maßvoll ausgeübt. Obwohl es schon seit dem Maastricht-Urteil von 1993 in Anspruch nimmt zu prüfen, ob sich EU-Beschlüsse im Rahmen der EU-Verträge halten, wurde noch nie ein EU-Rechtsakt von Karlsruhe beanstandet. Auch die grundlegenden Verträge von Maastricht (Einführung der Währungsunion) und Lissabon (effizientere EU-Strukturen, mehr Einfluss des EU-Parlaments) hat Karlsruhe akzeptiert und dabei jeweils nur den Bundestag gegenüber der Bundesregierung gestärkt. EU-Skeptiker sind schon frustriert und bemühen oft das Bild vom Tiger, der als Bettvorleger endete.

Inzwischen hat Karlsruhe seine Gouvernanten-Rolle sogar weitgehend zurückgenommen. Im Lissabon-Urteil 2009 hieß es, man werde nur einschreiten, wenn der EuGH „ersichtlich“ jenseits seiner Kompetenzen („ultra vires“) urteile. Auch wurde versprochen, dass Karlsruhe seine Kontrollfunktion nur „europarechtsfreundlich“ anwenden wolle. In der Honeywell-Entscheidung im Sommer 2010 zeigt sich Karlsruhe noch zurückhaltender. Nur „offensichtlich kompetenzwidrige“ Urteile des EuGH sollen beanstandet werden. Außerdem müsse das jeweilige EuGH-Urteil zu einer „strukturell bedeutsamen Verschiebung im Kompetenzgefüge zwischen EU und Mitgliedstaaten“ führen. Zudem will Karlsruhe, bevor es ein EuGH-Urteil für unanwendbar erklärt, dem Luxemburger Gericht Gelegenheit zur Stellungnahme geben.

Tatsächlich hat der Druck aus Karlsruhe immer wieder auch positive Entwicklungen in Europa bewirkt. So kritisierte das Bundesverfassungsgericht 1974, dass der EuGH keine Grundrechte prüft. Daraufhin begann der EuGH, aus den gemeinsamen Verfassungstraditionen eigene EU-Grundrechte als Richterrecht zu entwickeln. Inzwischen gibt es eine geschriebene EU-Grundrechts-Charta.

Mögliche Konflikte mit dem EuGH in Luxemburg sind in den letzten Jahren ohnehin in den Hintergrund getreten. Stattdessen nahm Karlsruhe zunehmend den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) als Konkurrenz war. Mehrfach hat der EGMR, der von 47 Staaten inklusive Russland und der Schweiz getragen wird, Karlsruher Rechtsprechung korrigiert: nichteheliche Väter bekamen mehr Rechte, Prominente wurden besser gegen Pressefotografen geschützt und zuletzt wurde die nachträgliche Verlängerung der Sicherungsverwahrung beanstandet. Das Bundesverfassungsgericht übernahm daraufhin im Kern jeweils die Straßburger Sichtweise und bewies damit auch seine Europafähigkeit.