: Belgien doch nicht unregierbar
BELGIEN 13 Monate nach den Wahlen könnte ein Kompromissvorschlag des Sozialisten Di Rupo die belgische Agonie durchbrechen. Erste positive Reaktionen dazu gibt es bereits
CARL DEVLIES, CHRISTDEMOKRAT
AUS BRÜSSEL RUTH REICHSTEIN
Es ist das erste Mal seit über einem Jahr, dass es Hoffnung gibt auf eine neue Regierungskoalition in Belgien. Der frankophone Sozialdemokrat Elio Di Rupo hat in Brüssel seinen Vorschlag für ein künftiges Regierungsprogramm vorgelegt und hat zunächst vorwiegend positive Rückmeldungen bekommen. Seit den letzten Parlamentswahlen vor 13 Monaten können sich die flämischen und die frankophonen Parteien nicht auf ein gemeinsames Koalitionsprogramm einigen.
Das Papier von Di Rupo könnte nun das Ende dieser Durststrecke einläuten. „Di Rupo hat Anerkennung verdient. Seine Arbeit ist eine gute Basis für weitere Verhandlungen“, sagte Carl Devlies von den flämischen Christdemokraten, die bisher mit Yves Leterme kommissarisch den Ministerpräsidenten stellen. Auch von den flämischen und den frankophonen Liberalen hat Di Rupo positive Reaktionen bekommen. Sie seien grundsätzlich einverstanden, erklärte der Vorsitzende der frankophonen liberalen Partei, Charles Michel, würden aber Änderungsanträge einbringen. Die flämische nationalistische N-VA, die die Verhandlungen bisher blockierte, hält sich bedeckt. Allerdings dürfte sie den Vorschlag des Sozialisten kaum rundweg ablehnen.
Di Rupo behandelt in seinem über 100 Seiten langen Papier in allen Details die zwei größten Streitpunkte zwischen Flamen und Wallonen: die zukünftige wirtschaftliche Ausrichtung des Landes und die Staatsreform. Punkt für Punkt macht Di Rupo konkrete Kompromissvorschläge. Zum Beispiel für den umstrittenen Wahlkreis Brüssel-Halle-Vilvoorde. Dazu gehören neben der Hauptstadt Gemeinden rund um Brüssel, die zwar auf flämischem Gebiet liegen, aber größtenteils von Frankophonen bewohnt werden. Die dürfen bisher entscheiden, ob sie flämische oder frankophone Parteien wählen. Die Flamen fordern die Teilung des Wahlbezirks und die Abschaffung dieses einmaligen Privilegs. Di Rupo schlägt vor, den Wahlbezirk zu teilen. In Brüssel dürfte dann weiterhin flämisch oder frankophon gewählt werden. In den flämischen Kommunen müssten die Frankophonen flämische Parteien wählen.
Ähnliche Kompromisse schlägt Di Rupo auch für die übrigen Streitpunkte vor. So bekommen die Regionen – wie von Flamen gefordert – mehr Kompetenzen in der Arbeitsmarkt- und Steuerpolitik. Außerdem dürfen die Regionen über Zuschüsse für Familien, Altersheime und Behinderte entscheiden.
Neben diesen Strukturreformen musste Di Rupo Vorschläge machen, wie er das Haushaltsloch von 22 Milliarden Euro bis 2015 stopfen will. Der Sozialist will dafür einerseits bei den staatlichen Behörden sparen, aber auch Steuern erhöhen, zum Beispiel auf Gewinne aus Immobilien- und Börsengeschäften.
Nicht angetastet hat der Sozialist das Renteneintrittsalter von 65 Jahren. Dennoch lehnen die Gewerkschaften den Vorschlag ab. Die Arbeitgeber werfen Di Rupo dagegen vor, vor allem bei der Rentenpolitik nicht weit genug gegangen zu sein. Bis Morgen dürften sich alle Parteien zu seinem Vorschlag geäußert haben. Danach will der Sozialist mögliche Parteikombinationen für eine Regierungskoalition vorstellen. Er hofft, bis Ende des Monats eine Einigung zu finden.