: „Die Mafia kontrolliert ganze Dörfer“
ORGANISATIONSSTRUKTUR Was die einzelnen Clans der italienischen Mafia ausmachen, wie sie sich gegenseitig schützen und ob ein Kampf dagegen erfolgreich sein kann
■ 50, Sizilianer, 1994 bis 2008 Parlamentsabgeordneter in Italien, wurde 2008 in den Senat gewählt. Lumia gehört dem gemeinsamen Anti-Mafia-Ausschuss der beiden Häuser des italienischen Parlaments an. Der Politiker, der an vorderster Front gegen die Mafia kämpft, lebt seit Jahren unter Polizeischutz.
INTERVIEW MICHAEL BRAUN
taz: Herr Lumia, Experten sagen, die Mafia-Organisationen seien ökonomisch stärker denn je. Sind die Fahndungserfolge der letzten Zeit purer Schein?
Beppe Lumia: Es wäre verfehlt, wenn wir verkündeten, wir stünden kurz vor dem endgültigen Sieg über die Mafia. Über die Verhaftung einiger wichtiger Bosse können wir uns nur bedingt freuen. Denn die Mafia ist ein System mit diversen Facetten. Da ist die militärische Komponente der Mafia; diese Komponente hat in der Tat schwere Schläge hinnehmen müssen. Aber darüber hinaus gibt es weitere Komponenten, die gleichermaßen zentral sind. Zum Beispiel die gesellschaftliche Komponente, die sich in der Kontrolle des Territoriums ausdrückt, in der Verwurzelung der Mafia, in ihrer Fähigkeit, Verhaltensweisen der Menschen zu prägen. Auch heute noch sind viele Viertel der größeren Städte, sind ganze Dörfer unter der gesellschaftlichen und kulturellen Kontrolle der Mafia. Drittens ist die ökonomische Macht zu nennen, die die Mafia wirklich stark macht – und die ihr auch immer wieder erlaubt, die Schläge gegen ihren militärischen Arm wegzustecken. Wir sind noch sehr weit davon entfernt, die große ökonomische Macht der Mafia-Organisationen wirklich einzuschränken. Sie setzen etwa 140 Milliarden Euro im Jahr um, und wir kommen mit allen unseren Fahndungserfolgen an vielleicht 10 Prozent dieser Summe heran.
Ministerpräsident Berlusconi dagegen hält einen Sieg in wenigen Jahren für möglich.
Das ist einer seiner Propagandasprüche, mehr nicht. Realistisch ist an dieser Prognose schier gar nichts. Erfolge wurden jedoch durchaus erreicht. Ich denke an die großflächige Konfiszierung von Mafia-Gütern, die dann sozialen Zwecken zugeführt wurden. Wichtige Erfolge haben wir auch im Kampf gegen die Schutzgelderpressung erreicht, vor allem dank der von unten gegründeten Vereinigungen, die gegen Schutzgeldzahlungen mobilmachen. Ich will da die Stadt Gela in Sizilien nennen, die heute an vorderster Front steht. Positiv ist auch die Entwicklung im Unternehmerverband Confindustria. Über Jahrzehnte hinweg unterwarfen sich die Unternehmen auf Sizilien entweder der Mafia – oder sie waren gleich mit ihr im Bunde. Heute können wir eine wichtige Wende verzeichnen: Der Unternehmerverband schließt alle Mitglieder aus, die Schutzgelder an die Mafia zahlen.
Wo sind die Schwachpunkte?
Im Kampf gegen die Geldwäsche stehen wir praktisch noch bei null. Zudem wäre viel mehr auf dem Feld der internationalen Wirtschaft zu tun – wir müssen dringend einen grenzüberschreitenden „gemeinsamen Anti-Mafia-Raum“ schaffen, in dem sich Staatsanwälte und Ermittlerteams koordinieren.
Und das Verhältnis von Mafia und Politik?
Aufschlussreich war die Untersuchung des Anti-Mafia-Ausschusses zu den Kandidatenlisten bei den letzten Regionalwahlen im Jahr 2010. Wir hatten im Vorfeld einen ethischen Kodex angeregt: Es sollten keine Kandidaten aufgestellt werden, gegen die Ermittlungen wegen Kontakten zur Mafia liefen oder über die gar einschlägige Urteile vorlagen. Als wir dann im Nachhinein die Listen überprüften, fanden wir Dutzende Kandidaten, die im Ruch der Mafia standen. Und hier geht es um ein Schlüsselfeld im Kampf gegen die Mafia. Doch wir stoßen auf ungeheure Schwierigkeiten, vorneweg bei der jetzigen Regierung. Doch das heißt keineswegs, dass sich der Einfluss der Mafia auf das Berlusconi-Lager beschränken würde.
Aber die sizilianische Cosa Nostra musste doch in den letzten Jahren schwere Schläge einstecken?
In der Tat, sie kassierte Niederlagen wie nie zuvor in ihrer Geschichte. Vor allem im Kampf gegen den militärischen Arm der Cosa Nostra gab es große Erfolge des Staates, und weiterhin vergeht kaum eine Woche ohne erneute Verhaftungen. Doch der heutige Boss der Bosse, Matteo Messina Denaro, ist absolut nicht zu unterschätzen. Er hat hervorragende Verbindungen zur Cosa Nostra in New York und ebenso gute Verbindungen zu den weiterhin unangreifbaren Sektoren in Wirtschaft und Politik. Die Mafia im „weißen Kragen“ wurde durch die Fahndungserfolge kaum getroffen.
Wie geht das – die Weiße-Kragen-Mafia macht weiter, obwohl die „militärische“ Mafia weitgehend besiegt ist?
Sie ist eben keineswegs besiegt. Sie ist schwächer – aber sie flößt weiterhin Angst ein. Sie zu schlagen heißt, ihr die Ressourcen zu entziehen, und das wiederum heißt: die Unternehmer-Mafia besiegen. Wenn die Mafia nicht das Geld hätte, um ihre Killertruppen zu bezahlen, ihre Späher in den Stadtvierteln, die im Gefängnis einsitzenden Mafiosi, dann stünde sie vor einem unlösbaren Problem.
Aber es scheint so, als habe Cosa Nostra mit seinen „Filialen“ außerhalb Siziliens, in Norditalien genauso wie in Europa, Macht eingebüßt?
Genau – und damit wären wir in Kalabrien. Die kalabresische ’Ndrangheta hat es geschafft, vorneweg im internationalen Drogengeschäft Cosa Nostra zu verdrängen. Die ’Ndrangheta wies ursprünglich zwei Spezifika auf. Erstens verschaffte sie sich in den 70er Jahren vor allem mit Entführungen Kapital für ihre Geschäfte. Und zweitens erfolgte damals die interne Selektion über die Blutfehden zwischen verfeindeten Clans. An einem gewissen Punkt aber begriffen sie, dass dies eigentlich zwei Schwachstellen waren, und sie orientierten sich an Cosa Nostra, die damals voller Neid betrachtete viel stärkere Organisation. Statt ewiger Blutfehden schlossen die Familien jetzt Allianzen; heute ist die ’Ndrangheta so weit, dass sie das zentralistische Modell der Cosa Nostra – mit einer „Provinzkommission“ an der Spitze, genannt Il Crimine, „das Verbrechen“ – übernommen hat. Wir dürfen vermuten, dass die ’Ndrangheta auch in Deutschland den gleichen Weg eingeschlagen hat.
Was sind heute die Geschäftsfelder der ’Ndrangheta?
Es gibt zwei Punkte, dank deren sie stärkste Organisation weltweit wurde: Sie garantierte den kolumbianischen Kartellen einen großen Markt, nämlich Italien und dazu noch Europa. Die Kartelle hatten damit einen einzigen Ansprechpartner, mussten sich nicht mit einer Vielzahl rumschlagen, und konnten große Mengen absetzen, die Verdienste für alle garantierten. Zugleich war die ’Ndrangheta viel besser als die südamerikanischen Kartelle in der Geldwäsche, die sie den Kartellen als Dienstleistung anbieten. Heute ist die Vernetzung so stark, dass die ’Ndrangheta selbst Anbauflächen unter eigener Regie betreibt.
Als Dritte kommt die Camorra.
Auch ihr Aufstieg beginnt mit den Kontakten zu Cosa Nostra. In den 60er, 70er Jahren wurden sie von den Sizilianern für den Zigarettenschmuggel angeheuert. Auch die Casalesi kopierten das zentralistische, vertikale Organisationsmodell von Cosa Nostra. Die Camorra war – wie die ’Ndrangheta – ursprünglich sehr „horizontal“ strukturiert, mit unabhängigen, oft verfeindeten Clans, und in der Stadt Neapel ist das auch heute noch so. Die Casalesi dagegen waren gelehrige Schüler der sizilianischen Mafia. Und heute gehören sie zu den reichsten, mächtigsten Mafia-Banden Italiens, auf ökonomischem genauso wie auf politischem Feld. Sie kontrollieren nicht bloß die Provinz Caserta, sondern haben zahlreiche Filialen in Norditalien wie auch im Ausland. Der Boss Antonio Iovine wurde im November 2010 verhaftet, der zweite Boss der Bosse aber, Michele Zagaria, ist immer noch auf freiem Fuß. Zagaria verfügt über exzellente politische Kontakte.
Was wissen Sie über die Kontakte, die zwischen Politik und Mafia bestehen?
Es gab da immer zwei Modelle: Das erste ist das Modell der „Vermittlung“, das zweite dagegen das der „direkten Vertretung“. Für das Modell der „Vermittlung“ steht der 1992 von der Mafia erschossene Christdemokrat Salvo Lima, der Anführer von Giulio Andreottis Parteiflügel in Sizilien. Lima schloss Abkommen mit Cosa Nostra, war ihr gegenüber aber autonom. Er schanzte der Mafia die großen Bauaufträge zu und garantierte ihr Straflosigkeit. Als dann aber die wichtigsten Bosse zu hohen Strafen verurteilt wurden, sahen sie sich verraten – und liquidierten Lima. Das zweite Modell: Die Mafia entsendet eigen Leute in die politischen Institutionen. So einer war Vito Ciancimino, neben Lima damals der zweite mächtige Politiker Palermos. Aber wir können auch heute Beispiele für beide Typen finden. Marcello Dell’Utri, rechte Hand Berlusconis, der zum Beispiel die Partei Berlusconis aufbaute, wurde in zweiter Instanz in Palermo zu sieben Jahren Haft verurteilt; er ist in meinen Augen einer wie Ciancimino.
Ein weiterer prominenter Politiker aus dem Berlusconi-Lager, gegen den als Helfershelfer der Camorra ermittelt wird, ist Nicola Cosentino.
Mehrere Staatsanwaltschaften ermittelten gegen ihn. Das Kassationsgericht erklärte, der Haftbefehl gegen ihn sei gerechtfertigt, doch bis heute ist Cosentino durch seine Immunität geschützt, weil die Regierungsparteien deren Aufhebung verweigern. Viel spricht dafür, dass auch Cosentino mehr ist als ein externer Partner der Mafia, dass er der direkte Gewährsmann und Vertreter der Casalesi in der Politik ist. Zum Beispiel im großen Müllbusiness war Cosentino auch direkter Geschäftspartner der Bosse. Er ist immer noch Regionalvorsitzender der Berlusconi-Partei „Volk der Freiheit“ in Kampanien!