„Zahlen Juden wirklich keine Miete?“

Werner Bab, einer der letzten Überlebenden des Holocaust, erzählt seine Geschichte regelmäßig vor Schülern. Gestern war er an einer besonderen Schule: der Rütli-Schule in Berlin-Neukölln, die als Beispiel misslungener Integration verschrien war

AUS BERLIN CIGDEM AKYOL

Werner Bab bleibt gelassen. Er hat in seinem Leben schon ganz andere Dinge erlebt, da bringen ihn freche Fragen junger Schüler nicht aus der Fassung. „Stimmt es, dass Juden keine Mieten für ihre Geschäfte bezahlen müssen?“, fragt die 17 Jahre alte Kolad den Holocaustüberlebenden Bab. Der muss lachen. „Nein, warum sollten Juden mietfrei leben“, fragt er zurück und schmunzelt bei der Vorstellung. Bab sitzt gemeinsam mit 14 Schülern einer Abschlussklasse in der berüchtigten Rütli-Hauptschule in Neukölln und erzählt von seinem Überlebenskampf im Nationalsozialismus.

Werner Bab gehört zu den letzten Zeitzeugen des Holocaust. Der 83-jährige Deutsche jüdischen Glaubens weiß, dass er nicht mehr lange über die Gräueltaten der Nazi-Diktatur wird berichten können. Deswegen drehte er gemeinsam mit dem Regisseur Christian Ender die Dokumentation „Zeitabschnitte“, in der er von seiner Biografie erzählt. Die beiden Männer zeigen ihren Film in Schulen, um anschließend mit den Schülern zu diskutieren. Wider das Vergessen zu arbeiten, das ist das Anliegen von Werner Bab. Deswegen besucht er die Rütli-Schüler.

„Ich habe kaum geschlafen“, erzählt die Klassenlehrerin Judith Bauch. „Denn wir wissen nicht, was uns gleich erwartet.“ Die Lehrerin scheint aufgeregter als die Schüler selbst. Die 14 Jugendlichen sitzen in ihrem Klassenraum, lachen und warten auf den Film. Als der Regisseur Christian Ender sich vorstellt und davon erzählt, dass er im Fach Philosophie promoviert, fragt eine Schülerin: „Was ist das?“ Als das Wort Gaskammer fällt, fragt ein anderer Schüler: „Gibt es davon noch viele?“ Der Sozialarbeiter Faissal Bakir bestätigt, dass seine Schüler sich für den Holocaust kaum interessieren. „Bei dem Thema herrscht einfach absolute Unwissenheit“, erklärt Bakir. Bei Einzelgesprächen mit wenigen Schülern höre er auch manchmal antisemitische Tendenzen heraus, sagt der Sozialarbeiter. „Hoffentlich stellen die Schüler gleich keine antisemitischen Fragen.“

Abgesehen von der einen Frage nach den angeblichen Mietvergünstigungen bleiben die Sorgen der Pädagogen aber unbegründet. Zwar rufen bei der Filmvorführung zwei Schüler aus der hinteren Reihe provokante Kommentare dazwischen und ein Mitschüler gähnt laut, legt seinen Kopf auf den Tisch und schließt seine Augen. Aber als der Film vorbei ist und Bab im Klassenzimmer von seiner Deportation 1942 in das Konzentrationslager Auschwitz erzählt, hören die vorher unruhigen Schüler gespannt zu. Außer Babs Mutter und einer Tante überlebte seine ganze Familie den Holocaust nicht. Während er davon erzählt, schaut er vor sich auf den Boden. Doch trotz der schmerzhaften Erinnerungen freut Bab sich über jede Diskussion. „Die Jugendlichen werden heute zu Unrecht so schlecht dargestellt. Viele Schüler sind interessiert und fragen neugierig nach“, erzählt Bab von seinen Vorträgen.

Aber die Rütli-Schule in Berlin-Neukölln ist nicht irgendeine Schule. 2006 schockierten Bilder von brüllenden Schülern und verzweifelten Lehrern die Republik. Damals wurden Polizisten angeheuert, um die Situation zu kontrollieren. Die zur „Terrorschule“ gekürte Anstalt mit einem Einwandereranteil von 80 Prozent wurde bundesweit zum Symbol gescheiterter Integration erklärt. Heute warten keine Neugierigen mehr vor dem Schultor.

Bab interessieren solche Negativgeschichten nicht. Er erzählt und erzählt und muss sogar unterbrochen werden. „Ob er sich denn trotz der schwierigen Vergangenheit in Deutschland wohl fühlt“, fragt ein Schüler. Bab zögert. Er habe immer gerne hier gelebt, antwortet er, „aber in den letzten zwei Jahren habe ich Angst bekommen“. Die Bilder von der Fanmeile während der Fußball-WM haben ihn an den Nationalsozialismus erinnert. „Damals waren auch solche Menschenmengen am Brandenburger Tor und jubelten lauthals. Aber die schwenkten Hakenkreuzfahnen.“