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Archiv-Artikel

Flucht vor der Eiszeit

LITERATUR Liao Yiwu hat China verlassen. Nun ist er sicher – und themalos

Als der chinesische Autor Liao Yiwu nach zehn Jahren Ausreiseverbot im Herbst letzten Jahres doch endlich nach Deutschland durfte, da sagte er noch, er würde China nie ganz verlassen. Er wäre hier arbeitslos. Er würde nie des Deutschen mächtig genug, um hier Geschichten zu finden. Und er wäre von dem, was er hier ausgraben könnte, nie so berührt wie von den Erzählungen seiner Helden „vom Bodensatz der chinesischen Gesellschaft“, den Gesprächsprotokollen, die ihn hier unter dem Buchtitel „Fräulein Hallo und der Bauernkaiser“ bekannt gemacht haben.

Jetzt hat Liao Yiwu doch sein Land verlassen. Der Grund: Er musste der chinesischen Regierung versprechen, nicht mehr im Ausland zu publizieren, sagte aber seinem deutschen Verlag die Veröffentlichung seines Buches „Für ein Lied und hundert Lieder“ zu, in dem Liao Yiwu über seinen Gefängnisaufenthalt in China von 1989 bis 2003 schreibt und das hier in wenigen Tagen erscheinen wird. Nach Lesungen und Interviews in Deutschland wird Liao Yiwu in die USA und nach Australien reisen. 2012 hat er ein einjähriges Stipendium des DAAD, diese Zeit wird er in Berlin verbringen.

Dass Liao Yiwu nicht mehr in China ist, hat viel Beruhigendes. Er schwebt nicht mehr in Gefahr wie viele chinesische Regimekritiker, Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo zum Beispiel, der immer noch inhaftiert ist und von dem immer noch jedes Lebenszeichen fehlt. Auch die Freilassung des Künstlers Ai Weiwei und des Bürgerrechtlers Hu Jia täuscht nicht darüber hinweg, dass in China gerade bittere Eiszeit herrscht.

Es ist aber auch traurig, dass Liao Yiwu nun hier ist. Wie eingangs erwähnt, handelt es sich bei Liao Yiwu um einen großartigen Meister des Gesprächsprotokolls. Seine Bücher, die auch auf dem chinesischen Schwarzmarkt reißenden Absatz finden, leben von „Volkes Stimme“, vom lebendigen Ton, in dem seine Protagonisten erzählen – und davon, dass Liao Yiwu ihnen stets auf Augenhöhe begegnet. Im Exil hat er – wie viele chinesische Autoren und Künstler – kein Thema mehr. Man kann nur hoffen, was Liao Yiwu hofft: 2012 wird es in China einen Regimewechsel geben. Im Moment sieht es nicht so aus, dass es je eine Jasminrevolution geben wird. Aber vielleicht kommt ja eine Phase des Tauwetters. SUSANNE MESSMER