: Sind wir denn verrückt?
INNERER KAMPF BuzzFeed oder „Zeit“, Kätzchen oder Hirn, Boulevard oder Qualität?
Ich geb mir Mühe. Wirklich. Jeder noch so ausführlichen Analyse zum Geschäftsklimaindex widme ich mich mit größtem Enthusiasmus. Neben Laptop und Starbucks-Kaffee wartet ungeduldig das 10-seitige Zeit-Dossier, das mir seit dem Morgen den Jutebeutel schwer macht. Aber das ist der Preis für Seriosität. Sonst könnt ich ja gleich Gala, Bild und B.Z. lesen.
Doch ein Moment der Schwäche genügt, ein Missgeschick, und ich stürze, Mausklick voraus, in meinen persönlichen Höllenschlund: Facebook. Tierisches steigt in mir auf. Mein Buzzfeed-versessenes Alter Ego legt sich wie ein lüsterner Schatten auf meine Schulter und wispert verschwörerisch: „Ist das knuffig! Das musst du dir angucken! Diese 15 Pelz-Partner sind zum dahinschmelzen. Nr. 10 … da fehlen die Worte. Thorsten aus dem Seminar zur Inzestthematik in der althochdeutschen Literatur hat’s gelikt. Das kann nur gut sein.“
Ich kenne diese Boulevardmasche doch. Eigentlich. Für einen Augenblick zweifle ich an der Qualität meines sozialen Umfelds. Auf den hoffentlich wachsenden Industriezweig der Kleintiersterilisierung umzuschulen will mir für lange Zeit nicht aus dem Kopf. „Is’ praktisch Zuckerbergs persönliche Zeitung für uns. Nun mach schon. Klick, du Stück!“ Noch versuche ich mit einem Rest an Selbstachtung aus der Lage zu entkommen, referiere mit erhobenem Zeigefinger über Qualitätsjournalismus, über abstruse Facebook-Content-Algorithmen und den unmittelbar bevorstehenden Untergang des westlichen Abendlandes. Es ist dieselbe verlogene Süffisanz, mit der ich bis heute leugne, je auch nur eine Folge von „Schwiegertochter gesucht“ gesehen zu haben. „O-ho, der feine Herr Zeit-Leser. Erzähl mir nicht, dass du die komplett durchliest. Sei doch froh, dass du mal abschalten kannst.“
Meinem vor sich hin speichelnden Gefährten ist die Begeisterung fürs Banalste deutlich anzusehen. Sein Geschwafel ist ähnlich virulent wie die Katzenvideos, die er mir anzudrehen versucht. „Niemand muss es erfahren. Nur du, ich und dieses kleine Quiz zur ewig währenden Frage, ob du eher eine Samantha oder eine Carrie bist.“ Die dadaistisch anmutende Überschrift „Im ersten Moment denkt man: Pfui. Aber die Zwiebel kann dich retten“ weckt tatsächlich mein Interesse. Wieder habe ich Thorsten aus dem Inzestkurs für diesen Unfall zu danken. Der Widerstand schwindet. Die Triebe triumphieren. Zumindest für den Moment. Ich weiß das. Mein animalisches Alter Ego weiß das. Die Zeit weiß das, und der brillante Kopf hinter „Werden kämpfende Riesenroboter endlich Realität?“ weiß das ebenfalls.
TOBIAS HAUSDORF, MARKUS LÜCKER