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Archiv-Artikel

Zu viele Orthopäden in Zehlendorf

GESUNDHEIT Ein Gesetz zur Stärkung der ärztlichen Versorgung soll erleichtern, in überversorgten Gebieten Praxen stillzulegen. Aber die Hürden dafür bleiben hoch

Gegen das Votum der Kassenärzte ist eine Stilllegung immer noch nicht möglich

BERLIN taz | In manchen reicheren Stadtgebieten reiht sich Arztpraxis an Arztpraxis, in ärmeren Regionen hingegen müssen die Patienten lange Anfahrten und Wartezeiten auf sich nehmen, um zum Augen- oder Hautarzt zu gelangen. Damit sich daran etwas ändert, soll es künftig den örtlichen Zulassungsausschüssen erleichtert werden, Praxen in überversorgten Gebieten aufzukaufen und stillzulegen, wenn der Inhaber in Rente geht.

Die neue Bestimmung steht im Versorgungsstärkungsgesetz aus dem Hause von Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU). Am Mittwoch findet im Ministerium eine Anhörung zum vorliegenden Referentenentwurf statt. Der Gesetzentwurf soll Anfang nächsten Jahres in den Bundestag kommen.

„Es ist sinnvoll, in ohnehin überversorgten Regionen frei werdende Arztsitze nicht automatisch neu zu besetzen. Sehr oft sind das Großstädte und Ballungszentren“, sagte Christoph Straub, Vorstandsvorsitzender der Barmer Ersatzkasse, der taz. Auch AOK-Chef Jürgen Graalmann hatte in der Bild-Zeitung gefordert, die Arztsitze in Großstädten deutlich zu verringern. Eine Sprecherin des GKV-Spitzenverbandes der gesetzlichen Krankenkassen begrüßte die Regelung, rügte aber im Gespräch mit der taz die Ausnahmebestimmungen. So kann die Praxis doch weiter verkauft werden, wenn der Erwerber zuvor drei Jahre als Angestellter in der Praxis tätig war. Auch Ehegatten oder Kinder des Inhabers können den Arztsitz übernehmen.

Die größte Hürde bei der Umsetzung jedoch dürfte die Zusammensetzung der örtlichen Zulassungsausschüsse sein, in der zur Hälfte Vertreter der Krankenkassen und der Kassenärzte sitzen. Eine Mehrheitsentscheidung der Kassen für die Stilllegung einer Praxis über die Köpfe der Kassenärzte hinweg ist daher nicht möglich. Darauf wies auch der CDU-Gesundheitspolitiker Jens Spahn unlängst hin.

Bisher gibt es nur eine Kannbestimmung über den Aufkauf von Praxen durch die Kassenärztlichen Vereinigungen, die in eine Sollregelung verschärft werden soll. Aufgrund der Kannbestimmung sind „unseres Wissens nach nur in sehr wenigen Einzelfällen Praxen stillgelegt worden“, sagt Roland Stahl, Sprecher der kassenärztlichen Bundesvereinigung.

Das Kriterium der „Überversorgung“ ist nämlich hochumstritten. Als Überversorgung bezeichnet man eine Arztdichte jenseits einer 110-Prozent-Versorgungsschwelle, die aufgrund einer Bedarfsrichtlinie ermittelt wurde. Nach dieser Schwelle existierten in Deutschland rein statistisch 25 000 niedergelassene Ärzte und Psychotherapeuten zu viel, darunter 4 000 überzähligen Internisten und 7.400 überversorgende Psychotherapeuten. Es ist auch fraglich, ob durch den Abbau der „Überversorgung“ anderswo eine bessere Ärztedichte entsteht. In Berlin etwa residieren viele Orthopäden im teuren Stadtteil Zehlendorf und zu wenige im armen Stadtteil Neukölln. Die ganze Stadt gilt aber als „überversorgte“ Region. Auch in Neukölln wird keine Neuzulassung mehr genehmigt.

BARBARA DRIBBUSCH