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Archiv-Artikel

Die große Durchfahrt

Über den nicaraguanischen Río San Juan auf den Spuren des legendären „Gran Tránsito“ vom Atlantik zum Pazifik. Der Fluss an der Grenze zu Costa Rica misst zwar nur 199 Kilometer, aber jahrhundertelang war er Zankapfel mächtiger Nationen

VON OLE SCHULZ

Träge fließt der Río San Juan vor sich hin. Doch plötzlich ein heftiges Kräuseln, erste Anzeichen der berüchtigten Stromschnellen. Seit dem Morgengrauen fahre ich vom Nicaragua-See stromabwärts Richtung Atlantikküste, vorbei an einer üppigen tropischen Vegetation. Mein Ziel ist San Juan de Nicaragua an der Flussmündung, eine legendenumwobene Ortschaft, die nur auf dem Wasserweg zu erreichen ist. Einst war sie Ausgangspunkt des berühmten „Gran Tránsito“, der „großen Durchfahrt“ vom Atlantik zum Pazifik.

Mittlerweile gibt es nur noch zweimal in der Woche eine Schiffsverbindung von San Carlos am Nicaragua-See nach San Juan. Statt mächtiger Dampfer wie einst verkehren heute kleine Motorboote auf dem Fluss. Diese sogenannten „Pipantes“ sind knapp zwei Meter breite Boote mit 66 Sitzplätzen, deren schmale Schalensitze auf die Dauer recht ungemütlich sind. Wenigstens bietet eine Markise Schutz vor der tropischen Sonne.

Ankunft nach 15 Stunden auf einer „Pipante“

Als wir nach 15 langen Stunden endlich am Kai von San Juan anlegen, ist es schon dunkel. Der Erste, dem ich hier begegne, ist Edgar Coulson, ein gemütlicher dunkelhäutiger Rasta mit langen Dreadlocks. Edgar lädt mich ein, bei ihm zu wohnen, und er verspricht mir, mich festlich zu bekochen. „Ich bin schließlich Chefkoch“, sagt der 53-jährige Edgar und lacht. Ursprünglich aus San Juan del Norte, dem alten San Juan de Nicaragua, stammend, beschloss Edgar als junger Mann, sein Glück im Ausland zu versuchen. „Ich wollte die Welt kennenlernen und schmuggelte mich als blinder Passagier auf ein griechisches Handelsschiff.“

Als ihn die Besatzung auf hoher See entdeckte, stand Edgar das Glück zur Seite: „Man brauchte an Bord noch eine helfende Hand, und so Begann meine Karriere als Koch“ – erst in der Kombüse, später in den exklusiven Hotelküchen. Auf Frachtschiffen, Segelbooten und Yachten bereiste Edgar ganz Lateinamerika. Nach 27 Jahren hatte er genug vom Leben fernab der Heimat: „Als ich hörte, dass mein Geburtsort, der im Krieg zwischen Sandinisten und Contras zerstört worden war, in der Nähe neu aufgebaut werden sollte, beschloss ich, zurückzukehren.“

Am nächsten Morgen laufe ich ein Stück in den Regenwald hinein, in die Reserva Biosfera de Río San Juan. Es ist das zweitgrößte Naturschutzgebiet Nicaraguas. „Man findet hier Orchideen, wertvolle Bäume wie Mahagoni, Zedern, Mandelbäume und Mispeln“, sagt Edgar. „Es gibt Jaguare, Wildschweine, Faultiere, wilde Truthähne und Tapire.“

Es ist eine verwunschene Region, durch die der Río San Juan fließt, hier ist alles anders als im spanisch dominierten Teil Nicaraguas. So sind die meisten Bewohner San Juans dunkelhäutig und sprechen ein kreolisches Englisch. Neben diesen „Criollos“, zumeist jamaikanischer Abstammung, leben in San Juan aber auch „Mestizos“ vom Pazifik, eingewanderte „Ticos“ aus Costa Rica und Indianer vom Stamm der Ramas. Der Ort, heute ein verschlafenes Nest, wurde einst San Juan del Norte, dann Greytown genannt und war einmal der wichtigste Hafen Nicaraguas.

Der Grund dafür ist der Río San Juan. Er misst zwar nur 199 Kilometer, aber jahrhundertelang war er Zankapfel mächtiger Nationen. 1539 hatten spanische Konquistadoren den Fluss als Wasserstraße zwischen der Karibik und dem nahe dem Pazifik gelegenen Nicaragua-See entdeckt. Seitdem bestand die Idee vom „Gran Tránsito“ – davon, den Río San Juan als Verbindungsweg zum Pazifik zu nutzen. Den Spaniern folgten englische Piraten, die sich um die Flusshoheit mit der spanischen Krone heftige Gefechte lieferten; bis heute streiten sich Nicaragua und Costa Rica um die Nutzungsrechte auf dem Grenzfluss.

Es sollte bis ins 19. Jahrhundert dauern, bis die Route über den Fluss größere Bedeutung erlangte: Als in Kalifornien 1848 der Goldrausch ausbrach und viele von der Ostküste in den Westen der USA reisen wollten, sicherte sich der Unternehmer Cornelius Vanderbilt die Transitrechte: von der Karibikküste, stromauf über den Río San Juan, durch den Nicaragua-See und über eine letzte Landpassage von rund 30 Kilometern zum Pazifik.

Dann wurde die Eisenbahn zwischen New York und San Francisco gebaut und der Niedergang der Ruta del Tránsito begann. Das endgültige Aus kam mit der Errichtung des Panamakanals 1902. In den vergangenen Jahren hat die Idee des Kanals jedoch wieder Auftrieb erhalten. Edgar hält davon nicht viel: „Das würde dem Regenwald großen Schaden zufügen. Zwar würde das Arbeitsplätze schaffen, aber auch unsere natürlichen Schönheiten zerstören.“

Am Nachmittag fahre ich mit Chambó, einem Rama-Freund Edgars, mit einem Boot zu den Überresten des alten Greytown. Auf einmal ragt vor uns ein stählernes Gerüst aus dem Wasser heraus. „Das sind die Überreste eines Schaufelbaggers“, sagt Chambó. Mit ihm sei Ende des 19. Jahrhunderts der Fluss ausgehoben worden. Es war der bisher letzte Versuch, den alten Traum vom Kanal zu verwirklichen.

Dann gehen wir an Land und laufen über einen schmalen Urwaldpfad bis zu einer großen Lichtung. Von Greytown sind nur einige unleserliche Grabsteine übriggeblieben. Chambó hilft mir, einen Stein freizulegen: „John Burgess, Mitglied der US-Fregatte Sabine, 23. September 1859. Gestorben beim Sturz vom Hauptmast“, steht auf dem Stein. Er wurde nur 22 Jahre alt. Sein Tod war nicht die letzte Tragödie, die sich hier abgespielt hat.

Diese ereignete sich am 4. April 1981, als die Ortschaft im Kampf zwischen den Sandinisten und der Guerillagruppe von Edén Pastora niedergebrannt wurde. Pastora ist eine schillernde Gestalt der jüngsten nicaraguanischen Geschichte: Vor der Revolution war er einer der wichtigsten sandinistischen Führer, dann kam es zum Bruch mit Daniel Ortega, dem er seine Nähe zum Kommunismus vorwarf. Pastora wechselte die Fronten und führte mit den von den USA finanzierten Contras einen Guerillakrieg gegen die Sandinisten.

Dass Edén Pastora zumindest einen Teil der Schuld an der Zerstörung der Stadt trägt, scheint ihm hier kaum jemand übel zu nehmen, auch Chambó nicht. Wesentlich kritischer beurteilt er die Rolle der Sandinisten. „Sie haben dir Waffen gegeben, um deine eigenen Brüder zu töten, die vielleicht auf der anderen Seite kämpften. Aber bevor ich jemand umbringen musste, bin ich nach Costa Rica gegangen.“

Hier gibt es kein Kind, das um Geld oder Essen bettelt

Nach meiner Rückkehr frage ich Edgar nach seiner Meinung, und er entpuppt sich auch nicht als Freund der Sandinisten: „Der Sandinismus hatte zwar auch gute Seiten, aber er hat die Menschen nicht dazu erzogen, vernünftig zu arbeiten.“ Laut Edgar sind die Bewohner San Juans traditionell Liberale oder Konservative. Das Argument, die Menschen seien wegen der Armut auf staatliche Hilfe angewiesen, will er nicht gelten lassen: „Hier gibt es kein Kind, das um Geld oder Essen bettelt. Wenn du in die Gesichter der Menschen schaust, siehst du, dass sie glücklich sind. Wenn du nichts zu Essen hast, musst du eben fischen gehen.“

In der Nacht träume ich von Dampfschiffen und Stromschnellen, Piraten und Guerillakämpfern. Doch schon morgens um vier werde ich von meinem Wecker aus dem Schlaf gerissen. Mir bleibt nicht viel Zeit. Um halb fünf muss ich am Hafen sein. Wieder werden 15 Stunden in einer eher ungemütlichen „Pipante“ vergehen, bis wir im Hafen von San Carlos einlaufen.