BESTELLEN UND VERSENDEN VON ARAM LINTZELDIE OBSESSIVE BEZIEHUNG VON POP ZUR UNMITTELBAREN VERGANGENHEIT : Mit einer reflexiven Retrohaltung lässt sich die Gegenwart in Frage stellen
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Immer mal wieder muss man sich mit ontologischen Rundumschlägen auseinandersetzen. Ob nun das Leben überall wirkt oder die Macht, der Sex oder – wie einst bei Giorgio Agamben – die Welt aus lauter Lagern besteht: Solche Generalthesen sind meistens plausibel und bedrückend zugleich. Für eine gewisse Beklemmung sorgt auch die Lektüre von „Retromania. Pop Culture’s Addiction to its own Past“, dem neuen Buch des britischen Musikjournalisten Simon Reynolds.
Reynolds’ These lautet populistisch verkürzt: Alles ist Retro, Nostalgie wirkt noch in den kleinsten Ritzen der Popkultur. „Mad Men“, Vintage Soul oder Neo-Preppies sind demnach Teil eines Retro-Kontinuums, aus dem es, so Reynolds, kein Entrinnen gibt. So raffiniert und umfassend wie Reynolds hat noch niemand kulturelle Befindlichkeiten von Retro untersucht. Wobei ihm allerdings fast ausschließlich Popmusik als Gegenstand dient. Das Berliner Stadtschloss kommt nicht vor. Während in früheren Jahrhunderten längst vergangene Kulturen neu belebt wurden, habe die Popkultur heute eine obsessive Beziehung zur unmittelbaren Vergangenheit entwickelt.
Neu ist diese Kurzzeit-Nostalgie nicht, schon die Northern-Soul-Szene der siebziger Jahre reanimierte obskure Soulmusik der sechziger Jahre. Und selbst Punk war trotz all des modernistischen Geweses (‚Nimm drei Akkorde und gründe eine Band!‘) von der Vergangenheit, vor allem von Rockabilly und Garage Rock, kontaminiert. Popkultur ist immer schon retro, nur dass sich inzwischen die Retro-Schlaufe immer enger zuzieht.
Der Fortschrittsglaube, so Reynolds, sei der Popmusik abhandengekommen, stattdessen herrsche eine „Future Fatigue“. Die Übermacht des Archivs lähme den Sinn für Gegenwart und Zukunft und führe unter anderem dazu, dass heute bei Pop-Festivals wie bei Museumsausstellungen von „Kuratoren“ die Rede ist.
Neben einer regressiven Nostalgie-Industrie, die für Dekadenzphänomene wie die Inflation von Reunions verantwortlich ist, gibt es eine progressivere Alternative-Nostalgie. Reynolds zeigt dies an neueren Musikstilen wie Chillwave, die vergangene Klangbilder nicht einfach restaurieren, sondern den Akt des Wiederholens und Durcharbeitens markieren und ausstellen. Retro wird reflexiv. Die Frage bleibt: Ist die „reflexive Nostalgie“, wie es Reynolds in Anlehnung an Überlegungen der Literaturwissenschaftlerin Svetlana Boym nennt, nur eine schlauere Auslegung des allgemeinen Retrozwangs oder ein dialektisch angelegter Fluchtweg aus der im Kritikerjargon so genannten „Retrofalle“?
In seinem Text „Was ist Zeitgenossenschaft?“ schreibt der erwähnte italienische Philosoph Giorgio Agamben: „Diejenigen, die restlos in einer Epoche aufgehen, die in jedem Punkt mit ihr übereinstimmen, sind nicht zeitgenössisch, weil sie gerade deshalb nicht sehen, nicht beobachten können.“ Im gelungenen Fall könnte das ,reflexive Retro‘ also distanzierend wirken, es könnte eine alternative Geschichte der Verlierer schreiben. Mit einer reflexiven Retrohaltung ließe sich die Gegenwart in Frage stellen, sie könnte an vergangene Möglichkeitsräume erinnern, an das, was beim Siegeszug der Popkultur am Pop selbst verloren gegangen ist. Das setzt natürlich voraus, dass es beim Sprechen und Schreiben über Pop auch 2011 um mehr geht als um spießige Obsessionen der „Kinder im Reihenhaushobbykeller“, wie Ambros Waibel in der taz neulich pseudo-witzig denunzierte. Die reflexive Nostalgie könnte aber auch – wie Nina Power mit ihrem im Titel ziemlich „retro“ klingenden Buch „Die eindimensionale Frau“ – darauf hinweisen, dass sich alte feministische Forderungen entgegen den Behauptungen des „Pop-Feminismus“ längst nicht erledigt haben.
Nicht zuletzt, das verschweigt Simon Reynolds, ist außerhalb der Popmusik nach wie vor ein Fortschritts- und Veränderungsappell zu hören, der sich etwa in der Anrufung des anpassungsfähigen, sich immer neu erfindenden neoliberalen Subjekts manifestiert. Die diagnostizierte „Future Fatigue“ wäre dann sozusagen eine zeitgemäße Pathologie mit kritischem Potenzial. Sie könnte anzeigen, dass das neoliberale Ballast-Abwerfen über die Allmacht des Retro hinwegtäuscht. Schon aus eigener biografischer Erfahrung weiß man schließlich, dass jeder angeblich autonome Neubeginn doch nur von versteckten Wiederholungszwängen gesteuert ist.
■ Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Grünen-Bundestagsfraktion und freier Publizist in Berlin