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Archiv-Artikel

Der TV-Wahnsinn der Neunziger

SEX, LIES & VIDEOS Als man sich noch Scherze mit Maurizio Cattelan erlauben konnte: Alex Bags Video-Performances im Züricher Migros Museum für Gegenwartskunst

Eine damals offenbar wichtige, heute längst erledigte Frage war: Wie viele Todesarten kennt ein Videotape?

VON KITO NEDO

Die Rolle des großen Spaßmachers in der Kunstgeschichte der Gegenwart ist gegenwärtig für Maurizio Cattelan reserviert. Der italienische Künstler darf sich scheinbar alles erlauben: Er zeigt den Papst vom Meteoriten erschlagen und seine Galeristen klebt er mit Gaffa-Tape an die Wand oder steckt sie in karnevaleske Peniskostüme. Es gab jedoch auch Zeiten, da haben sich Leute Scherze mit Cattelan erlaubt. Das war in den Neunzigern und Cattelan war noch nicht der Superstar, der er heute ist. Wer das sehen will, der sollte zur Retrospektive der New Yorker Videokünstlerin Alex Bag ins Zürcher Migrosmuseum fahren.

In der Ausstellungshalle des Museums, das wegen Umbau der angestammten Löwenbräu-Adresse nun in einem Interimsquartier im westlich gelegenen Stadtbezirk Zürich-Albisrieden residiert, flimmert noch einmal der TV-Wahnsinn der Neunziger über ein Dutzend am Boden verteilter Monitore. In einen der herumliegenden Sitzsäcke versunken sieht man Talkshow-Schnipsel: Michael Jackson und Lisa Marie Presley versuchen vergeblich, wie ein echtes Liebespaar zu wirken, ein Mädchen, das Milch weinen kann, verhackstückte und geloopte McDonald’s-Werbung, Modenschauen, eine grimmige Hiphop-Crew rappend zwischen Grabsteinen. Und man sieht einen schüchtern wirkenden Maurizio Cattelan in einem improvisierten Kochstudio ein Banana-Split-Dessert zubereiten, während sich eine Stimme aus dem Off über ihn lustig macht. Hinzu kommen Telefonscherze mit Verbraucherhotlines oder Lokal-Reportagen wie jene über eine Sushi-Maschine in der Küche eines japanischen Restaurants, die mit der Wieso-weshalb-warum-Attitüde auch gut in die Sendung mit der Maus passen würde.

Das sind die Zutaten von „Cash from Chaos“, einer zwischen 1993 und 1996 im Wochentakt produzierten und ausgetrahlten Videoshow von Alex Bag und ihrem Partner Patterson Beckwith. Unterbrochen wird der Bilderfluss immer wieder durch eine eingeblendete Studio-Telefonnummer: „Unicorns and Rainbows 807-5779“, was die Frage nach den damaligen Erwartungen der beiden Macher provoziert. Man muss sich den Sendeplatz vorstellen: „Cash from Chaos“ war Manhattan-weit immer Mittwoch nachts um 2.30 auf dem Kabelkanal 34 zu empfangen. Welche Sorte von Leuten sieht um diese Nachtzeit fern und greift dann auch noch zum Telefonhörer?

Insgesamt rund 12 Stunden Videomaterial umfassen die in Zürich nun präsentierten „Unicorns“, sagt Raphael Gygax, der Kurator der Ausstellung, der gemeinsam mit der Museumsdirektorin Heike Munder auch einen beeindruckenden Überblickskatalog zum Werk der 1969 geborenen Künstlerin erarbeitet hat. Das begehbare Videoarchiv bildet das Zentrum der Alex-Bag-Retrospektive. Man vergisst tatsächlich die Zeit in den Sitzsäcken auf dem roten Teppich, während man den zwei New Yorker vom Situationismus, Techno und „Do it yourself“ angefixten Art-Punk-Kids durch den selbstproduzierten, selbstgeklauten und selbstverfremdeten Video-Mashup folgt, in den man aufgrund seiner Vor-9/11-Entstehungszeit auch noch eine gewisse Unbeschwertheit hineininterpretiert. Eine damals offenbar wichtige, heute längst erledigte, Frage war: Wie viele Todesarten kennt ein Videotape? Der besondere Clou jeder Sendung bestand in der sorgsam zelebrierten Vernichtung eines VHS-Kassette mit der Sendung der Vorwoche: zersägt, frittiert, zerschossen oder am Times Square ausgesetzt.

Respektlosigkeit, Humor und Neugierde gegenüber dem New Yorker Mikrokosmus waren das Markenzeichen, schließlich gehörten sowohl Bag wie auch Beckwith zum Künstlerstamm der Mitte der Achtziger von Colin de Land (1955–2003) begründeten und nach dessen Tod aufgelösten Galerie American Fine Arts, Co. Das Unternehmen wird heute allgemein zu den einflussreichsten Galerien der späten Achtziger und frühen Neunzigerjahre gezählt. Anders als andere Galerien huldigte American Fine Arts nicht dem damals noch vorherrschenden Neo-Expressionismus, sondern pflegte die Verbindung zu einer Künstlergeneration, „die“, so der amerikanische Kurator Gilbert Vicario später, „zwar zynisch ist, aber dem intellektuellen Anliegen folgt, die ökonomischen, psychologischen und philosophischen Bedingungen des Entstehens von Kunst zu verstehen“.

Dazu passen auch die Paradestücke von Bag, die im Migros in drei seitlich gelegenen Abteilungen präsentiert werden: In der knapp einstündigen Videoarbeit „Untitled Fall ’95“ aus dem Jahr 1995 porträtiert sich die Künstlerin selbst als Kunststudentin in Form eines Videotagebuchs, dass wie im Zeitraffer über acht Semester abläuft und ein ganz unheroisches und unpathetisches Bild der Künstlerwerdung entwirft. So werden mit den Mitteln der Kunst natürlich auch ein paar Sandkörner in die gut geölten Getriebe der Mythenmaschine des Kunstbetriebs gestreut. Nur wenige kommen durch und das sind vielleicht nicht immer die Besten, sondern die mit den wenigsten Selbstzweifeln.

Von der gnadenlosen Konkurrenz, dem Geltungsdrang und den Begehrlichkeiten, die diesen Betrieb am Laufen halten, handelt „The Van“ (2001), das eine fiktive Besprechung zwischen einem Junggaleristen und drei Künstlerinnen vor der Armory-Kunstmesse zeigt: „I want you to be greedy. I want you to feel the greed. – Ich will, dass ihr gierig seid, ich will dass ihr die Gier spürt!“, feuert der Galerist seine Truppe so energisch an, als würden sie nicht nur ihre Kunst in seiner Messe-Koje zeigen, sondern tatsächlich gleich in einer Arena wie Gladiatoren kämpfen. „I want Hauser & Wirth to buy me a Ferrari!“, schreit schließlich eine der drei aufgekratzten Künstlerinnencharaktere, die alle von Bag verkörpert werden. Und das ist natürlich ein großartiger, heutiger, lustiger und wahrhaftiger Moment, weil es wirklich nur ein paar Schritte sind zur Zürcher Niederlassung des Kunstimperiums von Iwan Wirth. Denn die Galerie befindet sich auf derselben Etage wie das Migros. Man muss nur über den Flur.

■ bis 14. August, Migros – Museum für Gegenwartskunst, Zürich, Katalog (JRP) 32 €