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Archiv-Artikel

Turbulenzen in Tempelhof

JAZZ Zuhören als Antrieb: Das junge Kollektiv für Komponierte und Improvisierte Musik lädt drei Tage lang zum Festival im Club SilverWings am Columbiadamm

Nach der Europa- Premiere beim KIM-Festival zieht dieses Duo sicher weitere Kreise

VON FRANZISKA BUHRE

In einem Moment tönt es wie schwebende Kugeln, im nächsten wie kühlende Regentropfen an einem Sommertag, dann distanziert wie eine diffuse Bedrohung: Das Vibrafon. Dieses Instrument auf Rollen mit Klangplatten und Resonanzröhren aus Metall macht hellhörig und geistesabwesend, ist zurückhaltend und kann die Mitspieler doch wie Marionetten wirken lassen.

Am Dienstagabend steuert Simon Kanzler seine Band Talking Hands aus dem Hintergrund mit einer Mischung aus Vehemenz und Zurückhaltung.

Der Tenorsaxofonist Otis Sandsjö, der Bassist Igor Spallati und der Schlagzeuger Tilo Weber bemühen sich sichtlich, Kanzlers Stücke voll auszufüllen, am ehesten aber gelingt das Geoffroy De Masure auf der Posaune, wenn er laut aber wohldosiert in den Saal röhrt.

Hier ist die Akustik für Jazz optimal und das Publikum vorwiegend jung. Und das in einem ehemaligen Club der US-amerikanischen Alliierten: SilverWings, in dem sonst schillernde Rock-’n’-Roll-Parties gefeiert werden. Früher, so erzählt es der Betreiber Harmen de Keijzer, wurden im Kassenhäuschen D-Mark gegen Dollar eingetauscht, im heutigen Konzertraum standen Glücksspielautomaten. Nun lächelt de Keijzer angesichts der selbstbewussten Schar an Jazzmusikern mit eigenem Publikum etwas ungläubig und sagt: „Ich bin gespannt darauf, was passiert, denn ich kenne diese Szene kaum.“ Der gebürtige Holländer hat seinen Club dem ersten Festival des Kollektivs für Komponierte und Improvisierte Musik (KIM) geöffnet.

Das Kollektiv ist seit einem Jahr Gastgeber für andere Bands im Salon Tippel in Neukölln. Beim Festival spielen nun Bands von Mitgliedern wie die von Kanzler. Die Österreicherin Laura Winkler, ebenfalls KIM-Mitglied, singt am Eröffnungsabend bei Hütte und Chor. Die drei Sängerinnen und ein Sänger ergänzen sich inzwischen so gut mit der Band von Schlagzeuger Max Andrzejewski, dass die bisweilen kruden Paarungen zwischen freier Improvisation, Vokalisationen, Country-Beat und Schmelz kurzweilig unterhalten.

Die für den zweiten Abend verheißungsvoll angekündigten Percussive Mechanics der US-Amerikanerin Anna Webber mit zwei Schlagzeugen, Vibrafon, Marimba, Querflöte, Saxofon, Klarinette und Altsaxofon dagegen verwechseln Üben mit Atmosphäre. Die will einfach nicht aufkommen, wenn Kunstpausen und sich wiederholende Tonfragmente keinen Sinn ergeben. Die Musiker tauchen ab in ihre Noten und werkeln so vor sich hin, als würden sie selbst die kümmerlichen Improvisationen ablesen. Der Auftritt behauptet eine Musik, welche die Band nicht einlösen kann.

Erfrischend anders hält es das Duo der Landsleute Webbers, Matt Moran auf dem Vibrafon und der in Berlin lebende Fausto Sierakowski auf dem Altsaxofon. Bei ihnen ist die Improvisation Antrieb des gegenseitigen Zuhörens, von Wagnis und Klangforschung, von Loslassen und Entscheiden. Unter den Schlägeln Morans erklingt das Vibrafon in seiner ganzen Fülle, Sierakowski schüttet kurze stoßende Laute in die Zwischenräume von Morans staunenswertem Timing. Nach der Europa-Premiere beim KIM-Festival zieht dieses Duo mit Sicherheit weitere Kreise.

Höhepunkt des zweiten Abends ist das Konzert der US-Band Endangered Blood, welche diesen Termin als Startrampe ihrer Tour durch Deutschland, Frankreich und Belgien nutzt. Die Musiker kennen sich einfach schon lange, sie sind auch älter als die „KIMs“ und mischen in New York seit einigen Jahren mit.

Wahre Performer eben

Der Tenorsaxofonist Chris Speed und der Bassklarinettist Oscar Noriega, der Schlagzeuger Jim Black und der Bassist Trevor Dunn sind erfahrene Komplizen im Ausloten von kompositorischer Dichte, individuellen Freiräumen und gemeinschaftlichem Fundament, das jeden Augenblick eine andere Form annehmen kann. Sie müssen sich und anderen nichts mehr beweisen und strahlen Gegenwärtigkeit aus – wahre Performer eben.

Wie auch der Schlagzeuger und Professor am Jazz-Institut Berlin, der heute Abend sechs Vibrafonisten zum Großaufgebot lädt, darunter Matt Moran und David Friedman. Für diese außergewöhnliche Premiere hat John Hollenbeck eigens Stücke geschrieben.

Danach versprechen Liz Kosack und Christian Tschugnall einen „Sonnenaufgang über einer dystopischen Stadt der Zukunft“, wie die Zusammenkunft der Keyboarderin und des Schlagzeugers betitelt ist. Mittels Elektronik lassen sie Klangwellen ins Publikum branden, um an den Rändern von Chaos und Ruhe zu agieren. Fragt sich nur, mit welcher ihrer kunstvoll handgefertigten Masken Liz Kosack auftreten wird.

Insgesamt ein cleveres Festivalprogramm, das Entdeckungen möglich macht und einmal mehr aufzeigt, dass Jazzmusiker im Grunde die besten Stadtentdecker sind. Ohne sie wäre man vielleicht nicht in Tempelhof gelandet.

■ KIM-Festival, SilverWings, Columbiadamm 10 F2 (U6 Platz der Luftbrücke). Heuteum 21.00 Uhr: John Hollenbeck Vibensemble, 22.15 Uhr: „Sunrise over a dystopic future city“