: Ein anderes politisches Klima
Beate Seidel ist Dramaturgin am Staatstheater Stuttgart. Sie verfolgt seit mehreren Jahren aufmerksam die politisch-soziale Entwicklung in der Stadt und in Baden-Württemberg, was in ihre Theaterarbeit einfließt, zuletzt beim Stuttgart-Drama „Metropolis/The Monkey Wrench Gang“
von Beate Seidel
Natürlich hätte ich es wissen müssen: Diese verdammte Hoffnung, der politische Wechsel vom 27. März 2011 könne wirklich so etwas wie ein Befreiungsschlag aus einer festgefahrenen Situation sein – ich hätte ihr eigentlich keinen Moment lang aufsitzen dürfen. Und trotzdem war da für einen kurzen Augenblick lang die vage Vorstellung, nun müssten sich die leidigen Streitfragen, die Stuttgart vor allem im letzten Jahr beschäftigt, überfordert und zerrissen haben, beilegen lassen. Der immer wieder benannte Kompromiss, akzeptabel für beide Fronten, Neubaustrecke ja / Tiefbahnhof nein, schien ein bisschen näher gerückt.
Einen Augenblick lang. Aber Politik funktioniert anders, sie zwingt auch diejenigen, denen ich antizipatorisches Handeln zutrauen wollte, unter ihre Fuchtel. Das heißt, sie verlangt nach Pragmatismus, sie ist (in einer Demokratie sowieso) immer an Bürokratie gekoppelt, also an die genaue Prüfung aller Umstände durch entsprechende Einrichtungen, und darum enttäuschend für diejenigen, die sich schnelle Veränderungen wünschen. Schnell und unbürokratisch, schreibt Christoph Möller, handeln Diktaturen.
Es muss der gerade gewählten Regierung, und das ist weder neu noch überraschend, allerhöchstens ernüchternd, um die Erhaltung der (sowieso schmalen) Mehrheit gehen. Das schließt, so will es nach beinahe 100 Tagen Amtszeit scheinen, radikale Kurswechsel aus. Möglicherweise deshalb, weil die (klammern wir die Richtungsänderung in der Atompolitik aus, die ihren aktuellen Grund in einer Katastrophe hatte) selten konsensfähig sind.
Der Kampf um den Bahnhof aber schreit nach Konsequenz: Das beinahe mantraartige Beharren auf der Gewaltfreiheit des Widerstandes einerseits, der aktuelle Katechismus der Montagsdemonstrationen, steht gegen Ignoranz und Arroganz des DB-Managements andererseits. Nicht, dass mir nicht auch dies vertraut wäre, schließlich bin lange genug auf der Welt und kenne das unverfrorene Dealen mit Informationen, das häppchenweise Zugeben von unangenehmen Fakten auch aus einer anderen gesellschaftlichen Formation, deren Zerfall ich 1989 erlebt habe. Trotzdem ließe ich mich gern überraschen und würde nicht immer bestätigt werden wollen – in dem Gefühl, von denjenigen, in deren Händen sich ökonomische und damit politische Macht ballt, übergangen beziehungsweise nicht ernst genommen zu werden.
Das macht mich wütend oder (um mich am semantischen Diskurs um „Wut“ und „Zorn“ zu beteiligen) zornig. Und obwohl es absurd anzusehen ist, wenn grauhaarige Damen mit Polizisten rangeln oder dickbäuchige Herren vor Bauzäunen lagern, um sich wegtragen lassen, beschreibt diese Konfrontation, in welchem Maße sich der Stuttgarter Stellungskrieg neu zugespitzt hat – eben weil keine Lösung in Sicht ist.
Was also hoffe ich für diese Stadt, für mich als ihre Bewohnerin, wenn ich über ihre Zukunft nachdenke? Erst einmal etwas ganz Simples, vielleicht wiederum beinahe Naives: dass nämlich der neue Ministerpräsident nicht an Glaubwürdigkeit einbüßen möge. Was aber auch heißt, dass wir, seine Wähler, zwar viel von ihm fordern müssen, aber nicht zu viel – oder genauer – nicht zu schnell. In einer Demokratie muss (auch dies schreibt Christoph Möller) Handeln zu Veränderungen führen. Das sei der Sinn von Abstimmungen und Wahlen. Aber die Langsamkeit eines solchen Prozesses muss dabei akzeptiert werden.
Wenn es für mich einen wirklich spürbaren neuen Akzent in der Landespolitik seit dem 27. März gibt, ist es die integrative Kraft, die Ministerpräsident Kretschmann ausstrahlt, der in einem Stuttgarter Gespräch mit Intendant Hasko Weber sagte, er wolle die ihm nun zur Verfügung stehende Macht nutzen, aber nicht ausnutzen, und mit dieser Bemerkung (das ist der entscheidende Unterschied zur abgewählten sogenannten Baden-Württemberg-AG) nicht sofort mein Misstrauen geweckt hat.
Allein die persönliche Integrität eines Politikers wird jedoch den Stadtkonflikt nicht beenden, das ist klar, aber Integrität kann die Voraussetzung für ein anderes politisches Klima sein. Und das wiederum wäre die grundsätzliche Bedingung für eine neue politische Konstruktivität.