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Archiv-Artikel

Der Sieg der Vergangenheit

KINO Kasachstan schenkt sich das Heldenepos „Myn Bala“ zum Unabhängigkeitstag. Ein Drehbesuch in der Steppe

Borat ist ein Name, den man am besten vergisst, sobald man in Almaty aus dem Flugzeug steigt

VON CRISTINA NORD

Die beiden Pferde sehen tot und täuschend echt aus. Sie liegen hinter einem Mauerdurchbruch auf dem Boden, ihre Bäuche sind aufgedunsen, die Mäuler geöffnet, die Beine verrenkt. Ich muss mehrere Male hinsehen, um sicher zu sein, dass sie aus Fiberglas sind, und selbst dann will ich es nicht ganz glauben. Aber es kann nicht anders sein. Wären diese Kadaver echt, schwirrten Unmengen von Fliegen um sie herum.

Es ist ein Sonntag Anfang Juli, die Nachmittagssonne brennt auf die Kulissenstadt in der kasachischen Steppe hinunter. Die Pferde-Attrappen wurden für einen Filmdreh benötigt. Der Regisseur Akan Satajew hat etwa 30 säbelschwingende Reiter aufeinander losgelassen, in der digitalen Nachbearbeitung werden daraus 300 Reiter, damit die Schlacht auf der Leinwand imposant aussieht. Der Film heißt „Myn Bala“, „Tausend Jungen“, spielt im 18. Jahrhundert und erzählt vom siegreichen Widerstand der kasachischen Nomadenvölker gegen die von Osten her eindringenden Dschungaren. Am 16. Dezember, dem 20. Unabhängigkeitstag des zentralasiatischen Landes, wird das Auftragswerk Premiere feiern, und damit man davon nicht nur in Almaty oder Astana erfährt, hat die staatliche Produktionsfirma Kazakhfilm zwei englische und zwei deutsche Journalisten eingeladen. Wir beobachten den Dreh und berichten darüber. Wäre die Kulissenstadt kein Film-, sondern ein Kriegsschauplatz, das Wort embedded würde das, was wir hier sind, treffen.

Am Vortag ist der Regisseur mit seiner Crew zum nächsten Drehort weitergezogen, einem Stausee in den Bergen südlich von Almaty. Einige Helfer sind noch in der Kulissenstadt zugange, sie räumen Requisiten auf Lkws und bauen einen Pferch und Jurten ab. Die Anlage gehört Kazakhfilm. Sie besteht aus verwinkelten Gassen, Mauern, Zinnen und Türmen in Lehm-Stroh-Bauweise, nur auf der Rückseite, dort, wo die Kameras nicht hinblicken, besteht sie aus Holzgerüsten. 200 Meter entfernt fließt der Ili-Fluss, einige Ausflügler campieren am Ufer, Autoradios dudeln vor sich hin, ein Hirte treibt eine Herde Schafe und Ziegen zum Fluss.

„Myn Bala“ ist nicht der einzige Film, der an diesem Ort in der Steppe gedreht wurde. „Nomad“ zum Beispiel entstand hier, ein Historienschinken von Sergei Bodrow aus dem Jahr 2005. Auch darin geht es um den Kampf der kasachischen Nomaden gegen die dschungarische Armee. Bei Bodrow sagen die Figuren Sätze wie: „Seid euch stets bewusst, zu welchem Volk ihr gehört: zum stolzen Volk der Kasachen.“ In „Myn Bala“ soll niemand so hölzern-patriotisch daherreden. Um das zu gewährleisten, haben mehrere Scriptdoktoren das Drehbuch durchgesehen, versichert die junge Russin Anna Katschko. Überhaupt sind eine Menge Berater aus dem Ausland beteiligt: ein Schnittmeister aus Frankreich und einer aus den USA, ein Action-Spezialist aus Hongkong, ein Kameramann aus Kirgistan. Katschko gehört zum dreiköpfigen Produzententeam, und bevor wir am Sonntagmittag in die Steppe aufbrechen, gibt sie im Hotel in Almaty eine Einführung in den Film. „Myn Bala“ wolle „Traditionen wiedergewinnen“ und auf unterhaltsame Art geschichtliches Wissen vermitteln. Zugleich sei Sartay, der Held, „eine sehr moderne Figur“. Schließlich soll sich ein junges Publikum mit ihm identifizieren.

Am Montag folgen wir der Filmcrew in die Berge. Abends sitzen wir vor einem Kaminfeuer im Hotel Alpenrose und trinken Wodka. „Straff“, fordert die kasachische Produzentin Alija Uwalshanowa, das heißt: auf ex. Der Direktor von Kazakhfilm, Ermek Amanschajew, der dritte im Produzentenbund, raucht eine kubanische Zigarre, Akan Satajew kommt für eine Weile zu uns, obwohl die Vorbereitungen für den Dreh seine ganze Aufmerksamkeit verlangen. Dass er den Auftrag zu „Myn Bala“ erhalten hat, „ist eine Ehre“, sagt er. „Es ist ein sehr wichtiger Film für Kasachstan, denn er handelt von unseren Vorfahren, und über die wussten wir in den Zeiten der Sowjetunion wenig.“ Gleich wen man fragt, alle berufen sich mit Stolz auf die Legende von Sartay, alle unterstreichen den Stellenwert der Tradition, alle freuen sich über die identitätsstiftende Kraft von „Myn Bala“. Die 18 Jahre alte Schauspielerin Alija Telebarisowa, die die Geliebte des jungen Helden gibt, fasst es so zusammen: „Wir müssen uns daran erinnern, dass unsere Vorfahren für unsere Zukunft gekämpft haben, dass sie ihr Leben für unser schönes Land geopfert haben.“

In bösen Momenten denke ich an eine These von Dubravka Ugresic, einer aus Zagreb stammenden Autorin. In kommunistischen Ländern, schreibt sie in der Essaysammlung „Die Kultur der Lüge“, beziehe sich der Kitsch auf die Zukunft, in faschistischen speise er sich aus der Vergangenheit. Nun ist Kasachstan kein faschistisches Land, sondern ein totalitäres, und wenn man es mit anderen zentralasiatischen Ländern vergleicht, muss man anerkennen: ein milde totalitäres. Im April wurde der Präsident Nursultan Nasarbajew zwar mit 95 Prozent der Stimmen im Amt bestätigt, aber es gibt Ansätze zu einer freien Presse und, zumindest in Almaty, ein reges Kulturleben.

Was dürfen die Regisseure?

In der Nähe fließt der Ili-Fluss, Ausflügler campieren am Ufer, ein Hirte treibt seine Herde zum Wasser

Ermek Amanschajew, seit 2008 im Amt und Mitglied der Regierungspartei, wird nicht müde zu betonen, dass Kazakhfilm den Regisseuren freie Hand lässt. Unter den zehn Filmen, die die staatliche Produktionsfirma in diesem Jahr ins Kino bringt, seien durchaus solche, die einen kritischen Blick auf die kasachische Gesellschaft werfen. Als ich ihn frage, ob er die rumänischen Filme kennt, die in einem harschen Realismus die Verwerfungen in dem postkommunistischen Land erforschen und damit eine Art Nouvelle Vague begründet haben, antwortet Amanschajew, dass es in Kasachstan schon zu Beginn der 90er Jahre eine solche Nouvelle Vague gegeben habe und dass die damals aktiven Regisseure wie Amir Karakulow oder Serik Aprymow heute an neuen Filmen arbeiten. Mit Unterstützung von Kazakhfilm.

Jermek Tursunow sieht es anders. „Unsere Regisseure und Drehbuchautoren arbeiten im Sinne der Regierungsideologie“, sagt der 49 Jahre alte Filmemacher, als wir uns am Nachmittag vor meiner Abreise in der Hotellobby gegenübersitzen. „Vielleicht haben wir in der Gegenwart nicht so viele Siege zu verzeichnen und müssen deswegen nach Siegen in der Vergangenheit suchen.“ Tursunows Spielfilmdebüt „Kelin“ lief vor einem Jahr beim Filmfestival von Locarno, es spielt in einer fernen Vergangenheit, doch anders als in „Myn Bala“ gibt es hier nichts Heroisches. Tursunow zeichnet das Leben in der Steppe als rauen, sinnlosen Überlebenskampf. In Kasachstan war der Film umstritten, weil er auf verstörende Weise mit Sexualität umgeht. In einer Szene zwingt ein Pubertierender eine Ziege in einen Verschlag, als er wieder ins Freie tritt, knöpft er sich die Hose zu. In einer anderen Szene schläft die Heldin mit diesem Jungen, es bleibt offen, ob er das will oder nicht. Tursunow sagt, er sei in den kasachischen Medien der Pornografie geziehen und zur Persona non grata erklärt worden. „Ich war wie Borat.“ Und Borat ist ein Name, den man am besten vergisst, sobald man in Almaty aus dem Flugzeug steigt. Die Erinnerung an die Verunglimpfung, die Sacha Baron Cohens Kunstfigur für die meisten Kasachen bedeutete, sitzt tief.

Tursunow klagt, das kasachische Kino habe keine ästhetische Vision. Zu groß sei der Einfluss der Werbung, zu groß auch das Bedürfnis nach Unterhaltung. Auch er beruft sich auf die Tradition, nur dass er damit die Tradition des Kinos meint, den Anspruch, neue Filmsprachen zu entwickeln, das Bedürfnis, dem Erbe von Visconti, Pasolini, Antonioni oder Truffaut gerecht zu werden. Er selbst hat gerade eine freie Adaption von Hemingways „Der alte Mann und das Meer“ abgedreht, in diesen Tagen sitzt er am Schneidetisch und hofft auf eine Teilnahme an einem großen Filmfestival wie der Berlinale. „Der alte Mann und die Steppe“ folgt einem Hirten, der mit einer Schafherde in ein Unwetter gerät; so wie Hemingways Hauptfigur einsam auf dem Meer gegen Sturm und Haie kämpft, so hadert Tursunows Protagonist mit Hagel und Wölfen, mit sich und mit Gott. Kazakhfilm produziert den Film. Als ich Tursunow frage, ob er Sorge hat, wegen seiner kritischen Sätze Probleme zu bekommen, sagt er: „Nein. Ich bin frei.“

Am Set in den Bergen haben wir Gelegenheit, mit Khasan Kydyralijew, dem Kameramann von „Myn Bala“, zu sprechen. Der Kirgise zeichnet für die Bilder vieler zentralasiatischer Filme verantwortlich, unter anderem für „Der Dieb des Lichts“, der kürzlich auch in Deutschland angelaufen ist. 15 Minuten hat Kydyralijew für uns, dann muss er zurück ans Set, eine Stimme aus seinem Walkie-Talkie unterbricht mehrmals unser Gespräch. Ist es schwierig, die flache Landschaft der Steppe zu filmen? Eine Landschaft, die dem Auge keinen Halt bietet und in ihrer schier endlosen Ausdehnung etwas von einem perfekten Labyrinth hat? „Es ist eine gewisse Herausforderung“, antwortet Kydyralijew. „Es hängt viel vom Licht ab. Am besten, man dreht frühmorgens oder abends.“ Die Farben von „Myn Bala“ passen sich der Steppe an, sie sind erdig und warm. Wir wollen wissen, ob es für ihnen einen Unterschied macht, ob ein Film in der Gegenwart oder in der Vergangenheit spielt. Kydyralijew zögert nicht lange. „Nein“, lautet die Antwort. „Die Pferde sind die gleichen und die Jurten auch.“