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Archiv-Artikel

Form ist Gefühl

TANZFORSCHUNG Peter Pleyers Serie „Visible Undercurrent“ ist ein Erinnerungsarchiv in Bewegung und gipfelt in einem großartig gelungenen Theaterabend

Meg Stuart, Sasha Waltz, Eva Karczag und Yoshiko Chuma fragten, wer durch wen in die WG kam

VON ASTRID KAMINSKI

New York in den 1980ern: In Woody Allens „Manhattan“ wird das Ende der Stadt verkündigt, in Charlie Ahearns „Wild Style“ das Ende der HipHop-Kultur und in den Galerien das Ende der 60er Jahre. So in etwa beginnt das Kapitel „The end is near“ im Ausstellungskatalog des Chicagoer MCA zur Kultur der 1980er Jahre. Neben anderen Schlüssellektüren liegt es in der Podiumsbibliothek von Peter Pleyers „Visible Undercurrent“ (Bühne: Michiel Keuper) in den Sophiensælen aus. Es geht darum, wie die New Yorker Tanzszene der späten 80er Jahre über Amsterdam Eingang in die Berliner Nachwendezeit gefunden hat. Und wie sich diese Einflüsse an heutigen Ästhetiken der sich längst zur Tanzmetropole gemauserten Stadt wiederfinden oder spiegeln lassen.

Fast wie ein Schock wirkt dabei zunächst einmal der Zusammenprall von zwei komplett verschiedenen Endperspektiven. Das Ende der 80er als Finale: Die Aids-Krise, die nukleare Bedrohung sorgten unter einem enorm konservativen Weltkräfteklima (Reagan, Thatcher, Kohl) für ernst gemeinte apokalyptische Visionen. Heute ist das Ende im zeitlichen Sinn Vergangenheit. Nach der Entkoppelung von Raum und Zeit, nach dem Ende des Kalten Krieges, dem Ende der Geschichte, wird jegliches zeitdiagnostische Empfinden in hochpotenzierte Ironie verpackt. Alles ist möglich, aber nichts real. Vielleicht lässt sich aus dieser Gegenüberstellung die atmosphärische Verdichtung erklären, als Paul Singh am Freitagabend den Refrain von Mark Tompkins Requiem auf einen an Aids verstorbenen Freund sang: „Here we don’t try, we do.“

Schon einmal war der – übrigens vollkommen unsentimentale – Abend den Tränen nicht nur nahe. Das war, als Márcio Canabarro von einer Improvisation mit der Sophiensæle-Mitbegründerin Sasha Waltz und deren Erinnerungsbild an die sterbende Mutter erzählte. In einer Performance-Welt, in der nichts so groß ist wie die Hilflosigkeit gegenüber Gefühlen, sind das seltene Momente. „Form is sensation“, überlegt Canabarro im Bezug auf die Reenactments und Rekonstruktionen des Abends, und das trifft wie alles in dieser selten perfekten Arbeit.

„Visible Undercurrent“ baut in jeglicher Hinsicht auf Begegnungen auf. Im September blickten Tänzer-ChoreografInnen in einer ersten Serie von teilweise öffentlichen Kick-off-Sessions auf die Zeit der Post-Judson beziehungsweise Post-Postmodern-Ära zurück. Während sich Meg Stuart, Sasha Waltz, Eva Karczag und Yoshiko Chuma erst einmal warmredeten und versuchten herauszufinden, wer von wem in die WG aufgenommen wurde, taumelten sich Mark Tompkins und Jeremy Wade direkt szenisch ein. Als Gretel und Gretel ließen sie sich von einer Windmaschine verführen, um zu beweisen, dass, wer die List beherrscht, auch aus dem dichtesten Wald der Improvisation in den Glanz des Publikumserfolg zurückfindet.

Für die jüngste, zweite Serie siebten dann vier junge TänzerInnen unter der Regie von Peter Pleyer, begleitet von der Tanzwissenschaftlerin Kirsten Maar, die für sie interessanten Techniken, Motive und Choreografien aus dem Erinnerungsarchiv. Auf ihren Message-T-Shirts im Catharine-Hamnett-Stil steht „ACT“, „CRISIS“, „TOUCH“, „POOR“ und „YOSHIKO“, was nicht nur viel über die Motti des Abends erzählt, sondern auch viel darüber, wie geflügelt damit umgegangen wird. Von der Draufgängerin Yoshiko Chumo wird das task-orientierte Stück „Vier Minuten“ – eine Miniatur über Impuls und Kontrolle – zusammengewirbelt, während ansonsten vor allem die virtuose Weiterentwicklung der Kontaktimprovisation und der Umgang mit der Rückkehr der Theatralität auf dem Programm stehen.

Ein Kleiderwechsel zwischen dem Gegensatzpaar Sasha Waltz und Meg Stuart wird dabei zur virtuosen Viererszene ausgebaut und bildet die Klammer um weitere Szenen im Umfeld von Körperlichkeit und Körperflüssigkeit zu Zeiten von Gender-Trouble und Aids. Interessant dabei die zeitlich versetzten Fokusse der diesbezüglichen Körperpolitik. Auf Berliner Bühnen liefen die Diskurse um Queerness, Feminismus und Antirassismus weit weniger parallel ab als in den New Yorker Stücken der 80er. Dadurch wirken manche Themen der Reenactment historisch, andere aktuell und trotzdem sehr anders.

Mit diesem Verhältnis aus Kongruenten und Nicht-Kongruenten spielen die TänzerInnen. Am luzidesten vielleicht in Ishmael Houston-Jones’ „Hula“-Tanz, in dem die Requisiten geschlechtlicher Eindeutigkeit in ihrer Theatralität reduziert werden und eine vorsichtige Verschiebung hin zu einer Ästhetik von Körpern, die sich außerhalb des Kontexts von Reproduktionsleistungen verstehen lassen. Wie kann ein in jeder Hinsicht so praller Abend nur so subtil sein?