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Archiv-Artikel

„Die Politik vorgeführt“

RATING II Europa braucht keine eigene Agentur, sagt Juraprofessor Helmut Siekmann. Wichtiger sei es, Ratings aus Gesetzestexten zu tilgen

Helmut Siekmann

■ 63, ist Direktor des Instituts for Monetary und Financial Stability der Goethe-Universität Frankfurt. Er befasst sich mit dem Recht der öffentlichen Finanzen und Banken.

taz: Herr Siekmann, die EU-Kommission ist sauer auf die Ratingagenturen. Können Sie das verstehen?

Helmut Siekmann: In gewisser Weise ja. Einige Länder der Eurozone sind inzwischen schlechter bewertet als manche wirklich desolaten afrikanischen Staaten. Aber nicht nur die Noten an sich empfindet die Politik als ungerechtfertigt, sondern auch die Wahl der Zeitpunkte. Wenn die Eurozone gerade versucht, Unterstützungsprogramme auf den Weg zu bringen oder ein Land Sparmaßnahmen verkündet und die Ratingagenturen reagieren genau zu diesem Zeitpunkt mit der Herabsetzung von Noten, da fühlt sich die Politik vorgeführt.

Und plant eine eigene europäische Ratingagentur. Würde das die Schuldenkrise entschärfen?

Eine europäische Agentur an sich würde die Probleme nicht lösen. Ich meine auch nicht, dass mangelnder Wettbewerb und mangelnde Transparenz die wirklich entscheidenden Punkte sind.

Sondern?

Viele maßgebliche Akteure haben ihre Entscheidungen unmittelbar an die Zensuren der Ratingagenturen geknüpft. Wenn bei einem Fonds vertraglich vereinbart ist, es darf nur bis Triple B investiert werden und das Rating wird auch nur eine Stelle darunter festgesetzt, dann müssen auf einen Schlag alle Wertpapiere und Forderungen veräußert werden. Die Möglichkeit, Wertpapierbestände zu verringern, einen weichen Übergang vorzunehmen, gibt es nicht. Auch die Satzungen der großen amerikanischen Pensionskassen nehmen unmittelbar Bezug auf die Noten der Ratingagenturen. Außerordentlich problematisch ist aber vor allem, dass die Politik den Agenturen quasi hoheitliche Aufgaben übertragen hat.

Zum Beispiel?

In den Vorschriften über die erforderliche Eigenkapitalausstattung von Banken wird an die Bewertung von Ratingagenturen angeknüpft.

Das heißt, man müsste die Gesetze ändern, um die Macht der Agenturen zu beschränken?

Das wäre meiner Ansicht nach die wichtigste Maßnahme überhaupt. In allen Gesetzen, aber auch in allen anderen Hoheitsakten muss der Bezug auf die Noten von Ratingagenturen eliminiert werden.

Warum hat man privatwirtschaftlichen Agenturen so eine Bedeutung gegeben?

Sie können die Effizienz der Kapitalmärkte verbessern. Man wollte aber auch den Märkten mehr Freiheit geben. Früher hat der Staat vorgeschrieben, welche Wertpapiere überhaupt emittiert werden durften, aber auch wo Sparkassen das Geld der Sparer anlegen durften. Damals hat der Gesetzgeber die Entscheidung getroffen, was sicher ist, nicht eine Ratingagentur.

Für wie zuverlässig halten Sie Ratings?

Bei der Bewertung von Unternehmen leisten Agenturen in der Regel gute Arbeit. Aber bei der Beurteilung von Staaten hängt viel von politischen Umständen ab, die sich nicht wirklich gut prognostizieren lassen.

Wir legen unsere Zukunft in die Hände von Kaffeesatzlesern?

Der Blick in die Zukunft ist immer mit Unsicherheiten behaftet. Im Mittelalter hatte man dafür die Astrologen. Die hat man auch beschäftigt, nicht weil ihre Vorhersagen zutrafen, sondern weil man an sie glaubte. Ich will das nicht auf die gleiche Ebene heben, aber niemand kann in die Zukunft schauen. Zugleich will sich jeder absichern. Diese Funktion wird auch von den Agenturen erfüllt.

INTERVIEW: KERSTIN SCHWEIZER