: Raus aus Korsett und Vatermörder
Das Kolbe-Museum zeigt den Maler und Bildhauer Max Klinger als Zeitgeist-Spürhund der Jahrhundertwende
Nackt kauert Diana da und umfasst ihre Ellbogen mit den Händen. Unbekleidet kniet auch der Athlet, der die Hände zur Abwehr erhebt. Nackt wie diese beiden Skulpturen musste er sein, Max Klingers „neuer Mensch“. Deswegen musste der alte raus aus den Klamotten, raus aus Korsett und Vatermörder. 1891 erklärte der vor allem als Grafiker gefeierte Maler und Bildhauer die Darstellung des nackten Körpers zum „Kern- und Mittelpunkt aller Kunst“. In einer Zeit, als die Öffentlichkeit vom nackten Körper bestenfalls Gesicht, Hände, Arme und Dekolleté zu sehen bekam und Aktmodelle noch als Prostituierte angesehen wurden. Und viele es tatsächlich auch waren.
Klinger war mit seinem Faible für die Nacktheit allerdings kein Décadent: Weder ging es ihm in seine Kunst um die Darstellung des Verrufenen noch pries er das Fleisch als sinnlichen Selbstzweck. Stattdessen galt Klinger der unbekleidete Leib als Rückkehr zum Ideal des Natürlichen – und damit geriet er in die Nähe der Ende des 19. Jahrhunderts aufkeimenden Lebensreformbewegung, die sich ebenfalls für die Freikörperkultur stark machte.
In diesem Jahr hätte Klinger seinen 150. Geburtstag gefeiert. Das Kolbe-Museum nimmt dies zum Anlass für eine Ausstellung, die laut Katalog Klingers geistiger Nähe zur Lebensreform nachspüren will. Die Kuratorinnen haben dafür einiges Unbekannte wiederentdeckt und manches Vergessene aus öffentlichen und privaten Sammlungen zusammengetragen. Und obwohl nicht bekannt ist, dass Klinger selbst etwas mit FFK, Vegetarismus oder Landkommunentum zu tun gehabt hätte, weht in sein Metier, die Kunst, doch der reformdürstende Zeitgeist hinein. Mehr aber auch nicht. Klingers Nackte verzichten auf klassische Posen, ja, sie sind aber deswegen noch lange keine direkten künstlerischen Lebensreformprodukte. Klingers Ziel war, die wahre Natur des Menschen im Fehlen von Kleidung und Draperie darstellen. Ihm ging es um die Befreiung von überkommenen Schablonen und Feigenblattprüderien, um das Erfinden neuer Formen, die ihren die Nacktheit legitimierenden Sagen- oder Bibelbezug bestenfalls noch im Titel führen. So ist etwa Klingers „Hera“ von 1895 ein wenig zu dickbäuchig, um mit ihrem mythischen Göttinnenbild noch viel gemeinsam zu haben.
Das schon wegen seiner Größe zentrale Werk der Ausstellung heißt „Drama“. Aus einem zwei Meter hohen Marmorblock sind drei Figuren gemeißelt. Der nackte Muskelmann oben zieht offenbar nur deshalb mit größter Kraftanstrengung an einem Aststrunk, um die Arbeit seiner Muskeln und schwellenden Adern als ästhetisches Schauspiel darzubieten. Weiter unten befinden sich zwei nackte Frauenfiguren, die sich wie zum Kuss einander zuneigen. Ob die Arbeit des Bildhauer-Autodidakten tatsächlich ein Beispiel für den „Geschlechterkampf“ ist, wie es die Kuratorinnen wollen, ist bei seiner schieren Lust am Machen fraglich. Nicht dass Klinger das damals grassierende Thema nicht auch aufgegriffen hätte, aber auf Salomes, männermordende Sphingen und Femmes fatales war er nicht ausschließlich abonniert. Er porträtierte seine Lebensgefährtin Elsa Asenijeff mal als über den Mann siegende Schönheit, dann aber auch wieder völlig harmlos und unsymbolistisch in einer Gartenlandschaft. Der Vergleich zur aus Marmor gearbeiteten „Neuen Salome“, die wie eine typische Täterfigur im Kampf der Geschlechter daherkommt, lässt Klinger als einen dastehen, der zumindest ein ambivalentes Frauenbild hatte.
Bei den Porträtbüsten der Ausstellung wird Klingers gespaltenes Verhältnis zur Modernität kenntlich: mal modelliert er skizzenhaft bewegt in Ton, mal haut er klassizistische Glätte und überpersönliche Idealität aus dem Marmor. Klingers Stil- und Themenpluralismus reicherte das künstlerische Spektrum etwas in Richtung Moderne an, vollzog aber nie den entschiedenen Durchbruch. Klinger war auf der Suche, er wollte der menschlichen Natur mal über Nacktheit und mal über symbolistische Seelentiefe auf den Grund gehen. Und doch blieb er dem 19. Jahrhundert bis zu seinem Tod 1920 verhaftet. Den Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft zu überschreiten war ihm unmöglich. Er blieb immer auf der Epochenschwelle, mit einem Bein im schon Alten, mit dem andren im noch Neuen. RONALD BERG
Bis 2. 9., Georg Kolbe Museum, Sensburger Allee 25, Katalog 24,90 €