: Die Oberschüler aus der ersten Reihe
Jeden Mittwoch besuchen neun Schüler zwischen 13 und 17 Jahren eine Chemie-Vorlesung an der TU. Die Uni will mit dem Schülerstudium Jugendlichen bei der Wahl ihres späteren Studienfachs helfen und Hochbegabte gezielt fördern. Mit Erfolg: „Die Jüngsten gehören zu den Besten“, sagt eine Dozentin
VON JENS GRÄBER
Der Professor versucht, im Hörsaal eine gute Show zu liefern – und das schon morgens um 8 Uhr. Trotz Heiserkeit doziert er tapfer über Dünger und Betäubungsmittel, macht ausladende Gesten und verkündet leicht krächzend die Vorzüge eines berüchtigten Schädlingsbekämpfungsmittels: „DDT wirkt gegen Malaria und ist billig herzustellen.“ Nachteile: „Es ist giftig und gilt als Krebs erregend.“ Dann malt Roderich Süßmuth, Professor für organische Chemie an der Technischen Universität (TU), mit ungebrochenem Eifer wirr aussehende Figuren an die Tafel, bestehend aus Buchstaben und Strichen. Es sind die Strukturformeln der Chemikalien, über die er redet. Doch trotz des starken körperlichen Einsatzes: Wer nicht mindestens Chemie-Leistungskurs in der Schule belegt hatte, der hat eigentlich keine Chance, die Begeisterung des Dozenten als auch den Inhalt seiner Ausführungen zu verstehen.
Eigentlich. Doch im riesigen Vorlesungssaal 3010 der TU, der Platz für mehrere hundert Studierende bietet, sitzen sogar Schüler. In der ersten Reihe etwa der Elftklässler Karim Ben Lassoued, gerade 17 Jahre alt. Er fällt unter den Studenten nicht besonders auf: Mit seinen breiten Schultern, der Brille und der langen Lockenfrisur könnte man ihn auch für 23 halten. Vor ihm liegt das Manuskript zur Vorlesung, viel mitschreiben muss er nicht. Nur ab und zu ergänzt er die Seiten mit eigenen Notizen. „Bei den ersten Sitzungen habe ich nicht viel verstanden, aber das entwickelt sich“, sagt er. Seit zwei Monaten besucht er nun jeden Mittwoch die Chemie-Vorlesung. „Inzwischen verstehe ich fast alles“, erzählt Karim, nicht ohne einen Anflug von Stolz.
Der 17-Jährige nimmt am Schülerstudium der TU teil. Dabei können begabte Schüler Vorlesungen und Seminare in Fächern ihrer Wahl an der Uni besuchen – wenn ihre Schule es erlaubt. Seit dem Wintersemester läuft dieses Programm, 32 ganz junge Akademiker nutzen derzeit das Angebot, allein 9 sitzen in der Chemie-Vorlesung von Professor Süßmuth.
Karim verpasst während der Vorlesung praktischerweise nur die parallel laufenden Chemiestunden an seiner Schule. Die Klausuren müsse er zwar nachschreiben, erklärt er. Das sei aber kein Problem, seine letzte Note sei eine glatte Eins gewesen. Auch wenn Chemie genau sein Ding ist, Chemiker will Karim nicht werden. Er hat andere Pläne: „Solange ich denken kann, will ich Arzt werden“, sagt er. Doch weil man an der TU nicht Medizin studieren kann, habe er Chemie gewählt. „Das interessiert mich auch.“
Am nächsten Tag sitzt Karim um 16 Uhr in der Übungsgruppe, die zur Vorlesung gehört. Hier werden chemische Reaktionen besprochen. Draußen sind knapp über 30 Grad, die stickige Luft im Übungsraum betäubt zuverlässiger als jede Schlaftablette. Bei vielen der übrigen Teilnehmer zeigt sie Wirkung: Sie starren teilnahmslos auf ihre Blätter. Karim dagegen meldet sich oft, seine Antworten sind fast immer richtig.
Links neben ihm, vier Plätze weiter, sitzt Henrike Dusella. Der Stuhl ist zu groß für die zarte blonde Schülerin, die ihre Haare zum Pferdeschwanz gebunden hat – ihre Füße berühren kaum den Boden. Henrike meldet sich nicht, hört aber zu, beugt sich tief über ihr Blatt und vergleicht eifrig die Ergebnisse an der Tafel mit ihren eigenen. Ab und zu spielt sie mit der Monatsfahrkarte, die um ihren Hals baumelt. Henrike ist erst 13 – hat in der Schule aber schon zwei Klassen übersprungen und gilt als hochbegabt. Inzwischen geht sie in die 9. Klasse des Lise-Meister-Gymnasiums in Falkensee.
„Ich hatte Probleme, weil ich trotzdem nicht ausgelastet war“, erzählt sie und mustert ihr Gegenüber dabei intensiv durch die schmale Brille. Deshalb besucht sie jetzt die Chemie-Vorlesung und verpasst dafür den Bio-Unterricht. Mit ihrem Lehrer habe sie vereinbart, dass sie den Unterrichtsstoff nacharbeitet, sagt Henrike. Sie hofft, dass ihr das Wissen aus der Vorlesung später etwas bringt, erklärt die 13-Jährige, die erstaunlich konkrete Pläne hat: „Eine Bekannte von meinem Vater ist Verfahrenstechnikerin; diese Richtung will ich auch anstreben.“
Henrike geht sogar lieber zur Uni als in die Schule. „Mit meinen Klassenkameraden komme ich nicht gut zurecht – die sind alle 15 oder 16, das klappt nicht. An der Uni ist das gar kein Problem, obwohl die Leute eher um die 20 Jahre alt sind“, sagt sie. Dort findet sie die Atmosphäre insgesamt „entspannter“.
Auch Karim sagt, er empfände den Umgang mit den Studenten als sehr angenehm. Das mag auch daran liegen, dass die Studenten keine Konkurrenz der Schüler fürchten müssen, etwa um knappe Praktikumsplätze – hier haben regulär eingeschriebene Studierende Vorrang.
Auch bei den Dozenten kommen die Schüler gut an. Sabine Glesner ist Professorin für Informatik, in ihrer Einführungsvorlesung saßen schon im Wintersemester einige Schüler. „Auffallend ist, dass sie sehr gut sind. Auch diejenigen, die in der Vorlesung eher zurückhaltend sind und keine Fragen stellen, haben bei Klausuren mit die besten Ergebnisse“, sagt die Professorin.
Schüler-Unis sind keine Berliner Erfindung. Vor sieben Jahren hat die Universität Köln damit begonnen. Die TU will damit nun begabten Schülern zum einen früher als bisher die Möglichkeit geben, die Uni und ihr Angebot kennen zu lernen. Zum anderen will man hochbegabte Jugendliche wie Henrike gezielt fördern. „Wer zu uns kommen darf, entscheidet die jeweilige Schule“, erklärt Uta Dobrinkat-Otte, die Studienberaterin der TU. Die Schüler müssen vor allem durchweg gute Noten haben. Und: „Der Fachlehrer, dessen Unterricht der Schüler verpasst, muss mit der Beurlaubung einverstanden sein“, sagt Klaus Brunswicker, Rektor der Sophie-Scholl-Oberschule – hier geht Karim in die 11. Klasse. Manche Schüler sind allerdings zu ehrgeizig: „Wenn sich jemand für ein Kolloquium anmelden will, müssen wir ein wenig bremsen – das geht natürlich nicht“, so die Beraterin der TU.
Theoretisch können die Schülerstudenten von heute im späteren, „echten“ Studium sogar Zeit sparen: indem sie bereits jetzt an Klausuren oder Prüfungen teilnehmen und Leistungsnachweise erwerben. Das gelte laut Dobrinkat-Otte sowohl für die TU als auch für andere Universitäten. Tatsächlich gibt es inzwischen in den Hochschulgesetzen fast aller Bundesländer Regelungen zur Anerkennung von Leistungen aus dem Schülerstudium.
Wie viele Schüler nach dem Abitur tatsächlich das studieren, wofür sie sich schon vorher interessiert haben, weiß man an der TU noch nicht. Der Kölner Mathematik-Dozent Ulrich Halbritter, der als Erfinder des Schülerstudiums gilt, sagt: „Die erfolgreichen Schüler studieren das Fach später meistens auch.“ Genaue Zahlen hat aber auch er nicht. Die Studienberaterin der TU weist darauf hin, dass Schüler und Uni auch dann profitierten, wenn die Schüler später etwas anderes studierten: „Viele Abiturienten haben keine Ahnung, was sie wollen – und wechseln nach kurzer Zeit ihren Studiengang.“ Mit dem Schnupperstudium ließe sich das vermeiden.
Ein Teil des wahren Studentenlebens bleibt den Schülern aber verschlossen – aus Altersgründen. Zwar bekämen sie mit, wenn irgendwo eine Party ist, sagt Karim. „Aber wir waren noch nicht dort. Man darf da ja erst ab 18 Jahren rein.“
Schülerstudenten können sich zu Semesterbeginn anmelden. Infos bei Uta Dobrinkat-Otte (Tel. 3 14-2 59 78, uta.dobrinkat-otte@tu-berlin.de)