: Verwandelndes Glas
LEBENSARBEIT Mindestens eine berührende Erkenntnis pro Geschichte: „Zu viel Glück“, neue Erzählungen der großen Alice Munro
Sie dachte, alles wäre gut. Joyce lebt mit ihrem Mann Jon in einem Bauernhaus am Stadtrand, sie kennen sich seit Highschool-Zeiten, er baut Möbel, sie gibt Kindern Musikunterricht. Von außen betrachtet ein gutes Leben, von innen eigentlich auch – bis Jon sich in eine andere Frau verliebt. Die Konkurrentin ist keine junge, attraktive Geliebte, sondern die derbe, ausführlich tätowierte, ehemalige Alkoholikerin Edie, die mit ihrem Kind aus einer Welt jenseits der Gemütlichkeit auftaucht, in der sich Joyce und Jon eingerichtet haben. Joyce muss feststellen, dass nichts mehr gut ist. Die neue Frau zieht in ihr Haus, und Joyce beginnt ein neues Leben anderswo.
Dem Warum gibt Alice Munro keinen großen Raum in den Erzählungen ihres neuen Buchs „Zu viel Glück“. Warum Jon die tranige Edie der schönen Joyce vorzieht, bleibt unwichtig. Und dass Edies Tochter ausgerechnet Trost bei Joyce sucht, wird erzählt, aber nicht erklärt. Die Figuren in Munros Geschichten verhalten sich ohnehin fast immer anders als erwartet. Die einen schlagen plötzlich einen neuen Lebensweg ein, die anderen werden vor die Tür gesetzt, allerdings nicht immer zu ihrem Schaden. Manchen fällt ein großes Glück zu, andere stapfen, ob selbstverschuldet oder nicht, von einem Unglück ins nächste. „Es schien fast, als müsse es eine wahllose und natürlich ungerechte Sparsamkeit in der Haushaltsführung der Welt geben, wenn das große Glück eines Menschen – wie vergänglich und zerbrechlich auch immer – aus dem großen Unglück eines anderen kommen konnte.“
Es sind Weisheiten wie diese, die in Munros Short Stories stecken, klar formuliert in den Gedanken der Hauptfiguren. Mindestens eine berührende Erkenntnis pro Geschichte gibt es, und jede der Erzählungen spielt in ihrer eigenen kleinen Welt, sei es das Eigenheim einer kanadischen Middle-class-Familie, in dem ein kranker Mann gepflegt wird, oder ein Ferienlager, in dem zwei kleine Mädchen einen Mord begehen. Es ist das große Können der Alice Munro, diese Welten auf wenigen Seiten auszukleiden und fühlbar zu machen. Das scheint ihr die leichteste Übung zu sein: die Sphäre zu entwickeln, in der die Figuren sich bewegen. „Die Tür öffnete sich zu einer Szene elenden Wirrwarrs, in dem Beth offenbar alle ihre Tage zubrachte. Nasse Wäsche – Windeln und müffelnde Wollsachen – hing von der Decke, Flaschen blubberten und klapperten in einem Sterilisator auf dem Herd. Die Fenster waren beschlagen, und auf allen Stühlen lagen feuchte Wischlappen oder schmutzige Stofftiere. Der größere Säugling klammerte sich an die Stäbe des Laufställchens … und der kleinere saß in dem Hochstühlchen, um seinen Mund herum klebte wie ein Ausschlag breiige, kürbisfarbene Babynahrung.“
Viele Frauen bevölkern Munros Geschichten, oft verharren sie in Passivität, bis ein Zufall sie zwingt, ein anderes Leben zu führen. Wir erfahren als Leser nicht, ob es ein besseres Leben wird, aber wir begreifen, dass ein quälender Stillstand aufgelöst wird, dass der Veränderung ein Trost innewohnt: die Möglichkeit, sich neu zu entscheiden.
„Aber da ist mehr“, denkt Sophia, die Protagonistin der titelgebenden Geschichte „Zu viel Glück“, „als dehne sich ihr Herz aus, erreiche wieder seinen normalen Zustand und fahre danach fort, leichter und frischer zu schlagen und ihr alles beinahe lustig aus dem Weg zu pusten. Sogar die Epidemie in Kopenhagen konnte jetzt so etwas wie die Pest in einer Ballade werden, Teil einer uralten Geschichte. Wie ihr eigenes Leben auch, dessen Rückschläge und Kümmernisse zu Einbildungen wurden. Ereignisse und Ideen nahmen eine neue Form an, erblickt durch das Fenster des klaren Verstandes, durch ein verwandelndes Glas.“
In ihrer direkten, einfachen Sprache erzählt Alice Munro von den Schwächen der Menschen und ihrer Verletzlichkeit, von großen Enttäuschungen und kleinen Entzauberungen. Trotz dieser Realitätsnähe verrät sie jedoch die Sehnsucht nach der Schönheit des Lebens nicht. Munro spricht von der Liebe und von der Mühe, die sie macht, vom Suchen nach Gefährten und dem Befreien von ihnen.
„Zu viel Glück“ – das heißt bei Alice Munro nicht, dass einer ein Glückspilz ist, sondern dass in jedem Leben dann und wann mit Glück gegeizt wird.
Die Autorin selbst hat in ihrem Leben viele Auszeichnungen erhalten. 2009 schnappte sie Mario Vargas Llosa den Man Booker International Prize vor der Nase weg. Der trug dafür 2010 den Literaturnobelpreis nach Hause. Typisch Munro eigentlich. Manchmal geizt das Leben einfach mit dem ganz großen Glück. JENNY FRIEDRICH-FREKSA
■ Alice Munro: „Zu viel Glück“. Aus dem Englischen von Heidi Zerning. Fischer, Frankfurt a. M. 2011, 362 Seiten, 19,95 Euro