: Überleben in mörderischen Zeiten
KOLLABORATIONEN Nicholas Shakespeares „Priscilla“, eine Familienrecherche, die sich wie ein Krimi liest
Er nannte sich Otto und spielt in dieser Geschichte aus dem besetzten Frankreich des Zweiten Weltkriegs eine besondere Rolle. Sein Geld verdiente der Mann mit einer Tätigkeit, die – wie der Fall Gurlitt zeigt – noch heute für Irritation sorgt. Hermann Brandl, so Ottos bürgerlicher Name, war Oberst der deutschen Abwehr und für die Überführung „rassehygienisch“ bedenklicher Raubkunst heim ins Reich zuständig. Er lieferte direkt an die Endverbraucher: Göring und Hitler.
Wie aber kommt der Mann in eine Geschichte, in der es um eine Engländerin geht, die kurz vor dem deutschen Einmarsch in Frankreich einen wesentlich älteren französischen Landadligen geheiratet hatte, dann aber getrennt von ihm in Paris lebte? Ihr Name ist Priscilla, und sie war zu diesem Zeitpunkt in Liebesdingen genau so unerfahren, wie sie schön und anmutig gewesen sein muss. So jedenfalls beschreibt Nicholas Shakespeare die Frau, die seine Tante war. Der englische Romancier und Chatwin-Biograf legt eine Familienrecherche vor, die sich wie ein Krimi liest.
Shakespeare taucht wie ein Detektiv in diese Geschichte ein, in der es zu Beginn nur dunkle Flecken und eine entscheidende Frage gibt: Wie überlebte Priscilla die Zeit, in der Hitler noch meinte, England in Schutt und Asche bomben zu können. Als Engländerin in Paris war ihr ein Ehrenplatz auf den Todeslisten der Gestapo und der Résistance sicher.
Für die einen war sie eine potenzielle Spionin, für die andere eine mögliche Kollaborateurin. Wer also hat sie beschützt? Dass mehrere Männer in Betracht kamen, wusste Shakespeare aufgrund eines Fundes. Seine Tante hat in einer Truhe Briefe, Fotos und Manuskripte versteckt. Als seine Kusine ihm das Konvolut anvertraute, wurde Shakespeare klar, dass die Tante sehr viele Verehrer hatte, sich zeit ihres Lebens aber auch als Schriftstellerin etablieren wollte. Sie hinterließ unter anderem einen unvollendeten autobiografischen Roman.
Gefährliche Liebschaften im Paris der Nazis
Aber erst als er den dornigen Weg der Archiv-Recherche ging, öffnet sich ihm in den Akten eines Pariser Polizeireviers ein Türchen. Im Dossier eines Deutschen taucht der Name der Tante auf: Doynel de la Sausserie, Priscilla. Ab da trägt Shakespeare Steinchen für Steinchen einer Geschichte zusammen, die er wie einen Hitchcock-Thriller erzählt. Dabei ist er Staatsanwalt und Strafverteidiger zugleich. Er führt einen Indizienprozess gegen seine Tante, stellt aber auch die berechtigte Frage: Was hätte sie denn anderes tun können, als mit denen intime Bekanntschaften zu schließen, die ihr Überleben gewährleisteten? „Als ich entdeckte, was Priscilla im besetzten Paris getrieben hatte, war mir das zunächst überaus unangenehm“, gesteht Shakespeare, um die Tante gleich darauf gegen die Frau zu verteidigen, die ihr am nächsten stand: Gillian Sutro, Priscillas Herzensfreundin, auf deren Notizbücher Shakespeare in der Oxforder Bodleian Library gestoßen war.
Gillian wusste viel von der Freundin, von den gefährlichen Jahren aber kaum etwas. Irgendwann hegte sie aber trotzdem den Verdacht, Priscilla habe sich auch ihren langjährigen Liebhaber geschnappt. Aus der Freundin wird eine Feindin. Sie sei ja nur „Une pute de luxe“ gewesen, eine Luxusnutte. Shakespeare hält dagegen. Viele der Frauen, die nach dem Zweiten Weltkrieg der horizontalen Kollaboration bezichtigt und Fritz-Huren oder Deutschen-Flittchen genannt wurden, hätten mit ihrem Körper unter anderem das Essen für ihre Kinder bezahlt. Shakespeare erzählt eine Sittengeschichte aus einer Zeit, da Europa in den Abgrund stürzte. Und immer wieder stellt er die Frage: Welchen mächtigen Beschützer hatte Priscilla? War sie eine „Comtesse de la Gestapo“, die Geliebte eines Henri Chamberlin, der sich vom Kleinkriminellen bis zum Chef der französischen Gestapo hochgearbeitet hatte? Der Spur „Chamberlin“ folgt Shakespeare, die Auflösung sei hier aber nicht verraten. JÜRGEN BERGER
■ Nicholas Shakespeare: „Priscilla“. Aus dem Englischen von Barbara Christ. Hoffmann und Campe, Hamburg 2014, 511 Seiten, 22,99 Euro