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Archiv-Artikel

Ein Choreograf zitiert sich selbst

Nach 35 Jahren Jahren als Ballettchef präsentiert sich John Neumeier mehr denn je als Verpackungskünstler. Die am Sonntag mit Andersens „Die kleine Meerjungfrau“ eröffneten Hamburger Ballett-Tage interessieren trotzdem – als Neumeier-Retrospektive

Eine zeitgenössische Form für das klassische Ballett zu finden – um dieses Ziel zu erreichen, tritt John Neumeier schon längst nicht mehr nur als Choreograf auf. Auch für Kostüme, Licht, Inszenierung zeichnet er mittlerweile verantwortlich. Neumeier ist inzwischen Deutschlands dienstältester Choreograf und Ballettchef, seit 1973 ist er an der Hamburgischen Staatsoper tätig. Doch trotz seines bleibenden Vorsatzes, Meisterwerke zu schaffen, ist auch ein Neumeier-Ballett nicht mehr die große Zäsur, die eine andere Körper-Sprache entwirft, sondern gleicht mehr und mehr kurzen Injektionen von Bildern und Stimmungen.

Damit ist man bei der „Kleinen Meerjungfrau“, die am Sonntag die diesjährigen Hamburger Ballett-Tage eröffnete: Ein Bilderbogen aus paradiesischer Unterwasserwelt im ersten Teil, danach folgt gezuckertes 50er-Jahre-Matrosenflair und eine grellbunte, spitznasige Schiffsdampfer-Gesellschaft. Dass in diesem Spannungsfeld aus Wasser- und Erdenwelt der schüchterne Kampf der schönen Meernixe um die Zuneigung des Prinzen immer nur eine Sehnsucht bleibt, gehört mit zum perfekten Oberflächenspiel. Auch das Liebesleid der Meerjungfrau und ihre innere Zerrissenheit ist Dekoration – und die Erkenntnis nicht unbedingt neu, dass Neumeier in seinen Choreographien nicht die Lösung herrschender Konflikte sucht, sondern deren Verklärung verfestigt, zugunsten von Emotion, im schlimmen Fall zulasten von Sentimentalität.

Davon ist auch die „Die kleine Meerjungfrau“ nicht frei. Dabei gelingt dem Abend, vor zwei Jahren in Kopenhagen zur Eröffnung der neuen Oper entstanden, auch beeindruckend das Fließend-leichte: Im Smaragdblau der Unterwasserwelt scheint alles zu schweben. Frauenkörper wickeln sich um Männertaillen, gleiten kopfüber an Männerbrüsten herab. Szenen, die an Neumeiers „Undine“ aus dem Jahr 1994 erinnern.

Mehr als hundert Choreographien hat Neumeier in den vergangenen Jahrzehnten erarbeitet. Ein gewaltiges Oeuvre, mit dem er sich permanent weiterbeschäftigt und von dem er Teile mit den neuen Tänzern seiner Compagnie wieder einstudiert. Einige Choreographien hat er mehrmals überarbeitet. Die „Artus-Sage“ zum Beispiel, die auf den Hamburger Ballett-Tagen gezeigt wird. Dazu kommen in den nächsten zwei Wochen „Die Kameliendame“ in Starbesetzung, das Mozart-„Requiem“, das 1991 ein großer Wurf war. Oder die „Cinderella Story“, 1992 uraufgeführt; ihre grellbunte Szenerien finden sich in der „Meerjungfrau“ wieder. Solche Selbstzitate bergen für den Zuschauer die Chance für Entdeckungen: Welche Motive wo angelegt sind, kann er zu eruieren versuchen – und wofür sie stehen. Auch wie sich die Bewegungssprache verändert hat und wie die neuen Tänzer mit den Choreografien umgehen, die man vor zwanzig Jahren zum ersten Mal gesehen hat, lässt sich reflektieren.

Hundert Arbeiten sind ein unübersichtliches Gesamtwerk, könnte man meinen. Doch die Ballett-Tage sowie das ständig laufende Repertoire funktionieren wie eine Retrospektive, die schnellen Zugang bietet und Neumeiers Hamburger Schaffenszeit von 35 Jahren durchlässig macht, um leitmotivisches Vokabular zu verfolgen. Neumeiers work-in-progress lebt vom Variieren, nicht vom Neuerfinden.

Auch in der „Kleinen Meerjungfrau“ bleibt er sich in dieser Hinsicht treu – bis zur gezierten Geste des einsamen, unverstandenen Künstlers: Wie in vielen anderen Stücken tritt eine Künstlerfigur, hier Hans Christian Andersen, mit auf die Bühne, geistert durch das Geschehen und beobachtet es vom Rande, ohne echter Mitspieler zu sein – als seien die von ihm geschaffenen Figuren nur Traumgespinste. Am Ende darf der Dichter seine Muse umarmen: im letzten Pas de deux, der mehr einem gegenseitigen zarten Umstreichen ähnelt.

Es ist diese Art sensiblen Weltschmerzes, von der Neumeiers Arbeiten zehren und in der sie immer noch ihre tänzerisch großen Momente erleben. Mehr sollte man vielleicht gar nicht verlangen. Die großen Themen Liebe, Tod, innere Zerrissenheit durchziehen seine Arbeiten.

Dass Neumeier immer buntere Kunstwelten darum herum baut, scheint seinem eigenen Anspruch geschuldet, bedeutet jedoch nicht, dass er seine Arbeiten für die Gegenwart interessanter macht. Im Gegenteil: Die sehen mittlerweile ziemlich künstlich verpackt aus. SIMONE KAEMPF

33. Ballett-Tage: noch bis zum 15. Juli in der Hamburgischen Staatsoper