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Archiv-Artikel

Streik: Pendler im Zugzwang

Vier Stunden lang fuhren gestern morgen weder Züge noch S-Bahnen. Die meisten Berliner nahmen’s gelassen. Sie versuchten, auf vielen ungewöhnlichen Wegen zur Arbeit zu kommen

Bahnhof Friedrichstraße: Keine Bahn, nirgends

Keine Bahn fährt ein. Keine Bahn fährt aus. Keine Bahn fährt durch. Die Gewerbetreibenden und Service-Mitarbeiter im Bahnhof haben Dauerpause. Der Betrieb auf dem normalerweise hoch frequentierten Bahnhof Friedrichstraße ist erlahmt. Würde die Sonne nicht scheinen, man könnte meinen, es sei mitten in der Nacht. Doch es ist schon kurz nach acht Uhr in der Früh.

Wegen des Streiks der Lokführer geht hier nichts mehr. Die Nutzer der S-Bahn scheinen sich darauf eingerichtet zu haben, viele sind auf U-Bahnen, Busse oder Taxis ausgewichen, andere haben sich ins Auto gesetzt oder das Fahrrad aus dem Keller geholt. Auf den elektronischen Tafeln, die normalerweise die Einfahrt des nächsten Zuges ankündigen, heißt es nur: „Bitte beachten Sie die Ansagen.“ Es gibt aber kaum jemanden, der die Ansagen beachten könnte.

Auf einer Bank sitzt ein Mann und liest Zeitungen. Mehrere. „Ich wusste, dass heute gestreikt wird“, sagt er. „Deshalb bin ich ganz gemütlich hierher gebummelt.“ Dass er noch mindestens eine Dreiviertelstunde auf seine S-Bahn nach Potsdam warten muss, stört ihn nicht. NG

Im Südwesten: Die Straßen sind dicht

Viele Pendler aus dem Südwesten haben sich nicht auf den Streik eingestellt – das merkt, wer sich um Alternativen zur gewohnten S-Bahn bemüht. Denn weil es mit dem Rad zu anstrengend und zu Fuß zu weit wäre, in die Stadtmitte zur Arbeit zu gelangen, bleiben nur zwei Möglichkeiten: das Auto oder die U-Bahn.

Um die rettende Berliner Tube zu erreichen, muss man/frau aus Steglitz, Lichterfelde-West oder Zehlendorf sich erst einmal mit dem Wagen durch den Stau quälen. Die Straße Unter den Eichen ist fast dicht, die Schlossstraße ebenso, und nach einer Ausweichtour über die Stadtautobahn zum Tempelhofer Damm ist erneut Stillstand angesagt. Da macht es dann auch nichts mehr, dass man sich in den U-Bahnhöfen gegenseitig „auf die Füße steht“ und in der U-Bahn dicht gedrängt Richtung Stadtmitte ruckelt. Aber was erträgt man nicht alles gern für die Eisenbahner, wenn sie gegen Mehdorn antreten … ROLA

Hauptbahnhof: Ein historischer Morgen

Vielleicht geht dieser Dienstagmorgen in die Geschichte ein – als der einzige Zeitpunkt, an dem am Hauptbahnhof mehr Bahn-Mitarbeiter als Fahrgäste unterwegs sind. Um acht Uhr stehen überall lächelnde Service-Mitarbeiter und verteilen kostenlosen Kaffee. „Aufgrund von Streiks ist der Zugverkehr beeinträchtigt“, dudelt die freundliche Stimme zum wiederholten Mal durch die Lautsprecher. Doch fast alle wissen schon Bescheid: Außer ein paar Touristen sind hier keine Fahrgäste.

Auf Gleis 14 ist Hans-Joachim Kernchen, der Bezirksvorsitzende der Lokführer-Gewerkschaft, von einer Gruppe Reisender umringt. „Das ist wirklich sehr wenig“, stimmt eine ältere Dame ihm zu, als er erläutert, wovon ein Lokführer der Deutschen Bahn leben muss. 1.200 Euro netto, für eine 41-Stunden-Woche. „Die meisten Fahrgäste haben Verständnis für den Streik“, so Kernchen. Eine der wenigen Berufspendler, die sich auf den verwaisten Bahnhof verirrt haben, ist Jenny Mittag. „Ich hatte keine Ahnung, dass hier heute gestreikt wird“, sagt die junge Frau. Sie hätte um acht bei der Arbeit im brandenburgischen Prenzlau sein müssen. Die Streikenden könne sie zwar verstehen, von der langen Wartezeit ist sie aber genervt. „Hoffentlich weiß mein Chef Bescheid“, sagt Mittag. „Sonst wird mir die Fehlzeit noch vom Lohn abgezogen.“NG

Mitten in der Stadt: Anzugträger auf Rädern

Bis zu diesem Morgen waren die schwarzen Herren unsichtbar. Verschanzt hinter getönten Brillen saßen sie in schnittigen Autos und verstopften die Straßen von Mitte mit ihren in dezenten Farben gehaltenen Karossen. Schwarz sind diese noch nicht; schließlich ist die Mehrzahl der wichtigen Leute, die es zum Kanzleramt, ins Abgeordnetenhaus und zu den Lobbyorganisationen zieht, auf mittleren Angestelltenplattformen verankert. Da dürfen Autos noch beige, oliv, petrol, kobaltblau oder grau sein. Aber egal. Was interessieren die Autos. Die schwarzen Herren sind’s, auf die hier Licht fällt, denn sie denken mit.

En masse fahren Männer in dunklen Anzügen mit dem Fahrrad durch Mitte. Sie radeln mit offenem Jacket und wehenden Haaren. Sie haben ihre Hosen mit Hosenklammern fixiert oder hoffen auf das Glück der Kettenschutzbleche. Sie balancieren Aktentaschen oder Laptops. Sie überholen die, die sonst unterwegs sind: Menschen in Karohemden, Anoraks oder Schiebermützen. Sie fahren schnell und vor allem aufrecht. Das wichtigste aber: Von allen Farben der Welt für Fahrräder wählen die Anzugträger nur eine: Schwarz. WS

Ostbahnhof: Alles geht wieder

Es ist, als hätte sich jemand entschlossen, nach vier Stunden Pause die Play-Taste auf der Fernbedienung zu drücken und den Film weiterlaufen zu lassen. Wo Minuten vorher noch Stille war, herrschte um kurz vor neun Uhr am Ostbahnhof wieder das alltägliche Chaos. Um 9.04 Uhr fährt die erste S-Bahn Richtung Flughafen Schönefeld. Kurz darauf geht der erste Zug zum Hauptbahnhof. Es ist noch nicht mal voller als sonst. NG