Krebs in Teheran

SCHLAGLOCH VON CHARLOTTE WIEDEMANN Unbekannter Iran: Die Massentrauer um einen Popsänger

■ ist freie Autorin und wurde mit ihren Reisereportagen aus muslimischen Ländern bekannt. Im Oktober erschien ihr neuestes Buch bei Pantheon: „Mali oder das Ringen um Würde. Meine Reisen in einem verwundeten Land“.

Dies war ein anderer Tod. Er taugte nicht für unsere üblichen Nachrichten aus dem Nahen und Mittleren Osten, taugte nicht für Schlagzeilen von Glaubenskrieg und Fanatismus. Morteza Pashaei starb nicht im Kugelhagel, sondern in einem Krankenhaus in Teheran, und die Gewalt, die ihm angetan wurde, ist uns allen geläufig: ein aggressiver Krebs, Magenkrebs. Der junge Iraner war gerade 30 Jahre alt, ein Popsänger, bleich, sanft, melancholisch. Kein großer Star, viele Iraner hörten seinen Namen zum ersten Mal im vergangenen Jahr, als er – schon von der Krankheit gezeichnet – auf Tournee ging.

Überrumpelte Nomenklatura

Und doch bewirkte dieser andere, so unpolitische Tod in Iran eine Eruption. Binnen Stunden versammelten sich Zehntausende junge Männer und Frauen in allen größeren Städten des Landes zu Trauerkundgebungen, die Menge blockierte durch ihre schiere Größe Straßen und Brücken, manche sangen Mortezas Lieder, manche weinten. Aus Ghom, sonst als Stadt der Religionsgelehrten bekannt, berichteten regierungsnahe Medien von einem Autokorso, angeblich hundert Fahrzeuge umfassend, beklebt mit Postern des Sängers, aus den offenen Fenstern schallte laut seine Musik. Die Beerdigung in Teheran wurde zunächst abgebrochen, weil der Sarg im Ansturm der Massen stecken blieb; später wurde der Sänger im Schutz der Nacht bestattet.

Zwei Wochen ist dies alles nun her. Aus Sicht westlicher Beobachter waren die Trauerbezeugungen die größten spontanen Versammlungen seit 2009, seit der Bewegung gegen den vermuteten Betrug bei der Präsidentschaftswahl. Doch deutet der Vergleich eher in eine falsche Richtung. Morteza war kein Unterdrückter, kein Oppositioneller, kein verbotener Sänger. Gewiss, seine Texte waren für den Herrschaftsgeschmack der Islamischen Republik zu romantisch, gleichwohl durfte er ab und an im Staatsfernsehen auftreten, und das letzte Mal wurde er bei einem Wohltätigkeitskonzert des Innenministeriums auf der Bühne gesehen.

Was also motivierte so viele junge Iraner, die Trauer um einen mittelmäßigen Popmusiker auf die Straße zu tragen – während alle Welt auf die Verhandlungen über das Nuklearprogramm starrte? Der Gefühlsausbruch auf den Straßen traf die gesamte Nomenklatura der Islamischen Republik unvorbereitet, ob Hardliner, Reformist oder Dissident, ob Journalist oder Intellektueller. Einige Offizielle beeilten sich, „der Nation“ ihr Beileid auszusprechen. Soziologen und Psychologen suchen nun nach Erklärungen.

Zunächst erzählt das Geschehene, kaum überraschend, von der Macht der sozialen Medien. Viele Iraner haben Smartphones – angesichts ihrer Neigung, ohnehin gern und beständig zu kommunizieren, ein ideales Gerät. Nach der Nachricht von Mortezas Tod soll es eine Art Nutzerexplosion gegeben haben, und obwohl niemand dazu aufrief, standen bald Tausende vor dem Teheraner Bahman-Krankenhaus. Als vor einiger Zeit ein bekannter Ajatollah verstarb, gelang es den Staatsmedien trotz größter Mühe nicht, öffentliche Anteilnahme zu mobilisieren.

Krebs ist ein Thema in Iran. Die Rate der Erkrankten gilt als besorgniserregend hoch, auch wenn sie niedriger ist als in westlichen Industrienationen. Aufgrund der Sanktionen sind lebensrettende Medikamente oft nicht erhältlich oder nur auf teuren Schleichwegen. Dabei ist Iran selbst an internationaler Spitzenforschung zur Krebsbekämpfung beteiligt. Krebs ist also im Land ein Paradebeispiel für die Heuchelei bei den Sanktionen. Der iranische Gesundheitsminister, der als fähiger Mann gilt, war einer der Ersten, der der Nation zum Tod des Sängers kondolierte.

Morteza Pashaei hatte aus den sichtbaren Folgen der Krankheit und der Chemotherapie einen Stil gemacht. Ein schräg sitzender Hut mit schmaler Krempe auf kahlem Kopf, gelb getönte Brillengläser und ein braun gemusterter Schal, so trat er auf, das Gesicht abgezehrt, die Nase gespenstisch spitz. Schal, Brille, Hut lagen in den letzten Tagen neben seinem Kopfkissen im Krankenhaus, jedenfalls dann, wenn Fotografen kamen. Gutes Styling ist jungen Iranern wichtig; der Sänger gab dem Krebs, den sie sonst aus der älteren Verwandtschaft kennen, das Gesicht ihrer Generation.

Trauer und gutes Styling

Morteza ästhetisierte sein Leiden, und die Melancholie seiner Liebeslieder ging bruchlos über in die gefühlte Nähe des eigenen Todes. Es spricht viel für die Annahme, dass der sieche Sänger so zu einem Spiegel wurde, in dem sich junge Iraner selber sahen. Eine Generation, die sich um ihre Chancen betrogen sieht und deren mangelnde berufliche Perspektive der beständige Kummer von Eltern und Verwandtschaft ist.

Als Morteza starb, war der schiitische Trauermonat Muharram noch nicht vorbei, auch wenn sein Höhepunkt, Aschura, überschritten war. In diesem Monat wird das Martyrium von Imam Hussein im siebten Jahrhundert in Form von Ritualen und Gesängen immer wieder neu durchlebt – eine Passionsgeschichte, in die junge Männer zumindest in den Großstädten sichtbare Einflüsse von Popkultur bringen mit schicken schwarzen Hemden, Gel im Haar und Soundeffekten. Der Iran ist eine sich heftig wandelnde Gesellschaft, auch dort, wo er trauert.

Der Sänger gab dem Krebs, den man sonst aus der älteren Verwandtschaft kennt, das Gesicht seiner eigenen Generation

Ein letztes Bild: Der rötliche Holzsarg von Morteza, bedeckt mit der Nationalflagge, scheint über der Menge zu schweben, die sich Kopf an Kopf tumultuös auf dem Friedhof drängt. Es ist der größte Friedhof Teherans, dort liegen die zeitgenössischen Märtyrer begraben, die Gefallenen des iranisch-irakischen Kriegs.

Wie magnetisch angezogen streben auf dem Foto alle Arme Mortezas Sarg zu; Hände wollen ihn berühren, so wie sich die Pilger in den Mausoleen der schiitischen Imame drängen, um einmal im Leben das Gitter zu berühren, welches das Grab des Verehrten umschließt. Erst wenn man das Foto stark vergrößert, wird sichtbar: Die Hände, die sich dem Sarg des Popsängers entgegenrecken, halten Fotohandys; die Trauernden lassen sich fast zerquetschen für eine Aufnahme des Sargs. Es ist ihre Art der Berührung.

CHARLOTTE WIEDEMANN