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Archiv-Artikel

WIR:HIER

Kapitel 5

Am Freitagnachmittag traf sich bei gutem Wetter die halbe Klasse auf ihrer Wiese im Volkspark zum Chillen. Sie lagen auf Jacken oder Decken, Bier und Cola gab es auch meistens, manchmal hatte einer seine Gitarre oder Bongos dabei, Kumpels aus anderen Schulen kamen vorbei, blieben oder gingen wieder.

Es war ein guter Start ins Wochenende, oft ergab sich aus diesen Nachmittagen eine ziemlich coole Abendplanung, und wenn gar nichts los war, blieben sie einfach liegen und genossen die Spätsommerabende im großen Park. Zu gucken und zu kommentieren gab es genug. Sie lachten über die kranken Leute, die Tai-Chi und Yoga machten oder beobachteten die anderen Jugendgruppen, die sich hier trafen.

Die albernen Kämpfe, die sie noch vor ein paar Jahren miteinander ausgefochten hatten, waren einer viel lässigeren Haltung gewichen. Klar gab es trotzdem mal Ärger.

Als Arif und Julia sich verknallten, obwohl Jule offiziell mit Fabian zusammen war. Als der es endlich rausgefunden hatte, oder besser gesagt, als Anna, die Freundin von Julia es ihm gesteckt hat, weil sie Jules Verhalten fies fand und es nicht mehr mit ansehen konnte, dass alle außer Fabian längst Bescheid wussten, gab es eine richtig üble Prügelei zwischen ihm und Arif. Danach ließen Jule und Arif sich ein paar Wochen nicht mehr zusammen sehen.

Im Großen und Ganzen waren die Freitagnachmittage eine wirklich entspannte Angelegenheit. Sogar Esra und Pinar, die Zwillinge, deren strengen Eltern dauernd die Familienehre in Gefahr wähnten, konnten hin und wieder dabei sein. Ihre Brüder trafen sich mit Freunden auf dem gegenüberliegenden Hügel im Park und ihnen reichte der Sichtkontakt mit den Schwestern vollauf. Eigentlich waren sie sogar ganz froh, die Kleineren nicht dauernd beaufsichtigen zu müssen.

„Ey, ihr seid echt beim Senatswettbewerb angenommen worden? Das ist ja cool. Also ich komme und supporte euch beim Auftritt.“ Esra hielt Szusza die ausgestreckte Hand zum Abklatschen entgegen.

„Angenommen sind wir, aber ob wir auch teilnehmen, steht noch nicht fest. Matteo hat nämlich keinen Bock. Ist ihm zu kommerziell.“ Sie malte beim Wort kommerziell angedeutete Anführungszeichen in die Luft.

„Was? Wie bescheuert ist das denn? Matteo, nicht dein Ernst, oder?“ „Doch, ich finde es halt blöd, wir machen unsere Musik schließlich nicht für Wowereit.“

„Wowereit? Alter, was hat der damit zu tun?“, mischte Kay sich ein. „Der fährt in ’ner fetten Limo durch Berlin, und abends geht er mit seinem Süßen in irgendeine abgefahrene Homobar, um sich …“

„Du bist so versaut, Kay, echt, wo lebst du denn?“

„Ich hab kein Problem mit Schwulis, ich will nur nichts mit denen zu tun haben.“ Kay hob abwehrend seine Hände hoch. „Echt nicht.“

„Ja, nee is klar.“

„Kay ist wahrscheinlich selber …“

„Ey, willst du Ärger? Da hinten ist das Krankenhaus, kannste gleich im Rollstuhl rüberquietschen, wenn du weiter so eine Scheiße erzählst.“

„Jetzt beruhigt euch mal wieder, ist voll albern.“

Matteo räusperte sich. „Ich mach bei dem Wettbewerb nur mit, wenn Laura eine Mutprobe besteht.“

Die saß die ganze Zeit Rücken an Rücken mit ihrer Freundin Stella und tat, als ob sie alles nichts anging. Sie hatte ihre Kopfhörer auf und hörte trotzdem jedes Wort.

„Echt jetzt, ’ne Mutprobe?“ Ebru stieß ihr freundschaftlich in die Seite.

„Was ist los?“ Laura nahm die Stöpsel aus den Ohren, streifte ein Haargummi vom Handgelenk und band sich einen neuen Knoten, während sie antwortete.

„Matteo will sich was einfallen lassen. Aber was soll das schon werden? Der hat ja sonst auch nicht so tolle Ideen, oder? Also, ich bin bereit. Ich vermute aber mal ganz stark, da ist nur heiße Luft dahinter.“

„Ihr könnt ja aufs Rathaus Schöneberg klettern und die Glocke runterholen. Das wäre eine Mutprobe.“

„Pffft, weißt du, was diese Glocke wiegt? Die kann man nicht einfach ‚runterholen‘. Außerdem – wo ist da bitte sehr der Sinn?“

„Oder Laura sprüht ein Graffito an die Schule. So ein riesiges, das man von der Autobahn am Innsbrucker Platz aus sehen kann.“

„Gähn.“

„Ich hab keine Lust, mit euch darüber zu sprechen, das ist ’ne Sache zwischen mir und Laura“, sagte Matteo.

„Oh la la, eine Sache zwischen Matteo und Laura. Nachtigall, ick hör dir trapsen.“ – „Häh, was soll das denn heißen?“

„Mann, das sagt man, wenn man zwei Verliebte trifft, die noch nicht wissen, dass sie verliebt sind.“

„So ein Quatsch.“

Gegen zehn stand Laura auf. „Ich mach mich jetzt auf den Weg. Kommt irgendwer mit?“

„Ja warte, gehst du zum Bus?“ Fünf Minuten später hatte sich die große Gruppe in mehrere kleine aufgeteilt, die in verschiedene Richtungen liefen. Matteo ging neben Laura. „Mir ist längst was eingefallen. Wir treffen uns am Mittwoch um neun. An der Bushaltestelle vom 19er. Anhalter Straße.“

„Und dann?“

„Du wirst schon sehen. Zieh feste Schuhe an und bring eine Taschenlampe mit. Ich warte genau bis um Viertel nach neun, wenn du bis dann nicht da bist – dein Pech.“ – „Ich werde da sein. Da kannst du wetten.“

Der Bus hielt, und nachdem Laura eingestiegen war, drehte sie sich noch mal zu Matteo um und rief: „Ich freu mich. Und ich gewinne.“ Sie setzte ein bezauberndes Lächeln auf, ballte die Faust und schlug mit der anderen flachen Hand auf ihren Oberarm.

„Da hinten ist das Krankenhaus, kannste gleich im Rollstuhl rüberquietschen …“■ Sarah Schmidt publizierte bereits diverse Bücher und ist in zahlreichen Anthologien vertreten. Ihr aktueller Roman: „Eine Tonne für Frau Scholz“ ist imVerbrecher Verlag erschienen und in der Hotlist der 10 besten Bücher ausunabhängigen Verlagen2014. Für die taz schreibt sie den Fortsetzungsroman WIR:HIER www.sarah-schmidt.de