: Geistige Freiheit hinter Gittern
NAME: Helga Römer ALTER: keine Angabe TAT: gründete und leitet eine Fernleihe für Gefangene KONTAKT: www.kunst-und-literaturverein.de WÜRDE PREISGELD VERWENDEN FÜR: die Miete für die Vereinsräume Der taz-Panter für besonderes soziales und politisches Engagement wird in diesem Jahr zum dritten Mal verliehen. Es gibt eine LeserInnenwahl und eine Juryentscheidung. Am 11. August beginnt die LeserInnenwahl. Die beiden Preise werden am 15. September in Berlin verliehen. www.taz.de/panter
Panter-Kandidatin (5): Helga Römer verleiht Bücher und Medien an Gefangene und Kranke
Helga Römer und ihr „Literaturverein für Gefangene mit Buch- und Medienfernleihe“ kümmern sich um Menschen, die vorübergehend außerhalb der Gesellschaft stehen – auch wenn diese Gesellschaft in den letzten Jahren das Interesse an diesen Menschen verloren hat.
Bücher in die Gefängnisse schicken: „Warum machen Sie das überhaupt?“, wird Helga Römer oft gefragt, wenn sie mal wieder in der Fußgängerzone Dortmunds steht, um Spenden für ihren Verein zu akquirieren. Der Ton ist oft aggressiv. „Hotelvollzug“ heißt das polemische neue Stichwort; die politisch bewegten Zeiten, in denen die Belange von Gefangenen und Insassen forensischer Anstalten noch ein Thema waren, scheinen vorbei: „Ein Strafvollzugsgesetz würden wir hier heute nicht mehr bekommen“, sagt Helga Römer. Das Engagement der gelernten Bibliothekarin hatte im Jahr 1986 begonnen, also vor über 20 Jahren.
Etwa 2.000 Leser pro Jahr nehmen die Fernleihe-Bibliothek in Anspruch, im Schnitt sind es 10 Bücher pro Person. Was Gefangene wohl so lesen? „Der Graf von Monte Christo“ vielleicht? Nur mittelbar: „Die meisten fordern juristische Fachliteratur an – oft auch, weil sie natürlich der festen Überzeugung sind, unschuldig in Haft zu sitzen“, sagt sie lächelnd. Bücher in die Knäste schicken, damit aus den Gefangenen „bessere Menschen“ werden? „Ja, das sind so die romantischen Vorstellungen, aber da bin ich vorsichtig geworden. Doch jeder Mensch soll die Chance haben, sich entwickeln zu können, geistige Freiheit zu haben, auch wenn er eingesperrt ist. Da bin ich dann durchaus eine Missionarin“, sagt Helga Römer, dieses Mal sehr ernst.
Dafür arbeitet sie mindestens zwölf bis sechzehn Stunden in der Woche, ehrenamtlich. Sie ist Rentnerin – früher hatte sie in der Gelsenkirchener Stadtbücherei gearbeitet –, die drei Kinder sind aus dem Haus und „ihr Mann hat gelernt, damit umzugehen“, dass sie so häufig unterwegs ist. Das Haus ist voller Bücher, und der Rest der Zeit geht für das Fernleihe-Projekt drauf. Sogar eine ihrer Töchter macht nun im Verein mit, sie kümmert sich um die Kasse. „Eigentlich sind wir hier ja auch ziemlich ausgegrenzt“, sagt Helga Römer und blickt aus dem Fenster. Der Verein ist vor einem Jahr zwangsweise umgezogen, in ein Industriegebiet am Rande Dortmunds, gegenüber ist ein Autohaus. Im Ruhrgebiet gibt es viele Leerstände, und ab siebzehn Uhr ist die Gegend wie ausgestorben.
Viele der Helfer des Projekts sind psychisch krank, andere kommen über den dritten Arbeitsmarkt – und es ist viel zu tun. Früher gab es noch viel mehr freiwillige Helfer. An den Wänden der Kaffeeküche hängen Briefe der Gefangenen, telefonieren ist teuer und mailen geht nicht, weil Gefangene nicht ins Internet dürfen. „Am Anfang haben wir uns die Zeit genommen, die Briefe zu beantworten, auf die persönlichen Umstände der Leute einzugehen“, erzählt Helga Römer. Dafür ist heute keine Zeit mehr, „schade ist das. Jetzt gibt es höchstens noch eine Postkarte als Antwort. Es ist nun viel anonymer, und das würden wir gerne ändern.“ Die Bedingungen sind schwieriger geworden, auch wenn es keinen Mangel an Bücherspenden gibt – sowohl von Verlagen als auch von privaten Haushalten –, doch schon die Miete für die Bibliothek ist ein Problem. Aber Helga Römer und ihre Mitstreiter machen unermüdlich weiter, auch wenn in den Knästen von heute eigentlich kaum noch gelesen wird, „weil dort jetzt jeder eine Glotze hat“. Die Gefängnisse sind überfüllt, die Bedingungen für die Häftlinge werden immer schlechter: „Hier bei uns in Nordrhein-Westfalen ist ja unlängst ein junger Mann im Gefängnis zu Tode gefoltert worden, und zwar von seinen Mitinsassen. Jeder weiß doch eigentlich, wie die Zustände in den Gefängnissen sind, aber niemand interessiert sich mehr dafür.“
Die populäre RTL-Serie „Hinter Gittern“ hat Helga Römer noch nie angeschaut – da liest sie lieber Erich Kästner. Und wer Paris Hilton, die derzeit prominenteste Ex-Gefangene, ist, weiß sie kaum. Stattdessen war sie schon in sämtlichen Knästen Deutschlands, zum Teil hat sie dort sogar Lesungen veranstaltet. Sie hat ein ernsthaftes Anliegen, für das sie bereit ist hart zu arbeiten, auch wenn es ihr nicht immer einfach gemacht wird: „Man glaubt es ja kaum, aber aus den Gefängnissen gibt es noch immer Widerstand gegen unsere Fernleihe“, sagt sie.
Nur gesellschaftlich haben sich die Zeiten geändert: „Ja, ich weiß auch nicht. Es gibt schon viel weniger Engagement als früher, so mein Eindruck. Aber man muss sich doch auch um die Details kümmern und nicht immer nur über das Allgemeine reden“, findet sie.
Bald schon wird Helga Römer wieder in der Dortmunder Fußgängerzone stehen. Mit einem Tapetentisch voller Buchspenden, die sie versuchen wird zu verkaufen, um die Kosten für Miete, Heizung und Telefon bestreiten zu können. Sie wird Info-Broschüren verteilen, für Unterstützung werben und sich dafür beschimpfen lassen, dass sie sich ausgerechnet für „solche Leute“ einsetzt. Und sie wird versuchen, den Menschen zu erklären, dass jeder eine Chance verdient hat – auch wenn er im Gefängnis sitzt. MARTIN REICHERT