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Archiv-Artikel

Im Alphabet des Blau

SEHNSUCHT A wie Azur, Z wie Zirkon: Blau kennt viele Töne. In der Literatur, der Kunst, dem Leben. Angelika Overath hat darüber promoviert. Zuletzt aber beschrieb sie die Farben des Schnees

AUS SENT WALTRAUD SCHWAB

Blau legt sich zwischen die Dinge und den Blick auf sie. Eine Transitfarbe ist es. Vom äußeren Bild öffnet Blau die Türen zu inneren Bildern. Blau ist überall. „Und wenn der eine ‚blau‘ denkt, muss der andere unwillkürlich mitmachen. Das ist schön, nicht?“ Die jung verstorbene Malerin Paula Modersohn-Becker soll das gesagt haben über diese Wunderfarbe, die den Träumen nah ist, über diese Universumsfarbe, die es in vielen Facetten gibt – mal mehr im Rot, dann doch lieber im Grün bis hin zu Braun und fast Schwarz: Acetinblau – wie marine ist es. Ägyptischblau und Äthylblau leuchten grünlich. Akeleiblau ist ein rötliches Ultramarin und Aliceblau ist leicht gräulich, aber kräftiger als Milchblau, Antikblau ist wie Azur. Und weiter geht es über Aquamarin und hundert andere Töne bis zur letzten Farbe im Alphabet des Blau: Zirkonblau. „Ein anmutiges, zartes, lichtes Blau, grünlicher als Himmelsblau, bis Kornblumenblau, ähnlich dem Wasserblau.“

Blau kann alles sein. „Blau – diese Sehnsuchtsfarbe“, sagt Angelika Overath. Sie ist vor vier Jahren in die Schweizer Berge gezogen. Ins Engadin. „Näher ans Blau“, sagt eine gute Freundin von ihr, die ihr half „Das blaue Buch“ zu schreiben.

Angelika Overath, Schriftstellerin und Literaturwissenschaftlerin, war eine der Ersten, die sich im deutschen Sprachraum wissenschaftlich und ethnologisch mit Blau befassten. Sie hat darüber promoviert und eine Anthologie verfasst, in der alles, was über die Farbe zu finden ist, einfließt. Blau ist die Farbe ihres Schreibens geworden, weil es sich – wenn stimmt, was Goethe schrieb – entzieht und anzieht in einem: „Wie wir einen angenehmen Gegenstand, der vor uns flieht, gern verfolgen, so sehen wir das Blaue gerne an, nicht weil es auf uns dringt, sondern weil es uns nach sich zieht.“

Overath hält Goethes Ausführungen für den Schlüssel zu Blau. Goethe habe seine Farblehre, an der er sein ganzes Leben arbeitete, für sein wichtigstes Werk gehalten, sagt sie. Es sei der Einstieg in die abstrakte Malerei, denn erst wenn Farben von sich aus eine Bedeutung haben, braucht es den Gegenstand nicht mehr, um über sich hinauszuweisen. Das Konkrete und das Abstrakte existieren von da an parallel nebeneinander. Auch beim Schreiben. Overaths Großvater war übrigens Schuster. Die Schuhe, die er für seine Enkelin machte, waren blau. Sie hat sie bis heute.

Aquamarin

Es muss Gründe geben, warum Overath dem Blau verfiel. Die dunkelhaarige Frau mit den tiefdunklen Augen, die sich, um das Dunkle zu vervollständigen, nur schwarz kleidet, tut äußerlich alles, um in die Distanz zu gehen. Schwarz. Undurchdringbar. Aber wer mit ihr spricht, stößt an keine Barrieren. Genauso wenig, wie ihr Haus verschlossen ist, ist sie es. Gott, Welt, Liebe, Kinder, Sucht, Sex – sie spricht über alles.

Eigentlich wäre sie die Richtige, um über die Frage „warum blau?“ zu schreiben. „Keine Zeit“, mailt sie. Aber darüber sprechen, das ja, das mache sie. Im Gegenzug will sie etwas über Jugendsprache wissen. Denn dazu muss sie innerhalb weniger Tage hundert Seiten verfassen. „Ich schreibe gegen die Zeit an.“ Sie ist Autorin. Der Auftrag bringt Geld. Ihre These: Jugendliche müssen eine eigene Sprache in der Sprache finden, um zu spüren, dass sie in der Welt sind. „Im Anfang war das Wort“ – so beginnt ihr Text.

Im Anfang war auch Blau. „Die Farbe des Übergangs, Blauverschattung Melancholie“, sagt Overath. Sie sitzt an ihrem Küchentisch, haut Sätze in den Computer und lässt sich ablenken. „Ich war ein melancholisches Kind“, sagt sie. „Mit einem Vater, der sich ständig umbringen will. Und die Mutter fährt jeden Tag mit dem Kind zum Friedhof. Das ist doch krank.“ Zwischen solchen Sätzen kocht sie auch noch. Am liebsten Fisch und Krautsalat mit Ingwer und Knoblauch. Aber wie ist sie auf die Idee gekommen, über Blau zu promovieren? Sie wollte über etwas Originelles schreiben. Auf der Hochzeit einer Kommilitonin auf dem Land sagte diese: „Oh, die Wiesen sind schon blau“ – der Sommer also schon weit. „Da dachte ich, ich schreibe über Blau. Blau in der Literatur.“ Ihr zukünftiger Doktorvater saß bei dem Fest mit am Tisch. „Blödsinn“, meinte er. Aber die Idee war in der Welt. Und je länger sie zusammensaßen, je fröhlicher die Runde wurde, umso mehr Blau häufte sich am Hochzeitstisch an. Jedem fiel etwas ein: „die blaue Blume“, „der blaue Reiter“, „der blaue Hund“ – es soll wie ein ansteckendes Lachen gewesen sein. Die „Dame in Blau“, „der Blaue Engel“, „Blaubart“, „von den blauen Bergen kommen wir“. Schlag auf Schlag geht das. Bei Schiller der „höllische Blaustrumpf“, „nein, lieber der Blauschlumpf“, „Blue Bird“ und ab ins Blaue. „Ich habe zu Hause eine blaues Klavier und kenne doch keine Noten.“ Ja, ja, wenn einer blau sagt, muss der andere mitmachen. „Das ist schön, nicht?“ Am Ende der Hochzeit hatte der Doktorvater keine Einwände mehr. Die Laune aber wurde für Overath zu einer Lehre, wie Literatur mit Farben zum Sprechen gebracht wird. Auch jenseits des Gegenstandes.

Overath sitzt am Tisch in der Küche. Das Fenster im Rücken. Ihr Mann ist in Amerika, ihr elfjähriger Sohn stromert mit seinen Freunden im Dorf umher. Die beiden erwachsenen Kinder sind nicht mit in die Schweiz gezogen. Unter der Bank liegt der schwerhörige, fast blinde Hund. „Ginger“, heißt er. Die Farbe ist gemeint. Ginger, fuchsrot – wie das Fell des Tieres. Er passt zur hölzernen Stube. Nur die Spüle ist blau.

Indigo

Es ist nicht leicht über Blau zu sprechen. Denn wie ein Schleuderball katapultiert das Wort aus den wirklichen Zusammenhängen heraus in die, die denkbar sind. „Blau zieht so viel nach sich. Blau mit seinem Versprechen auf Perspektive, Ferne, Aufbruch. Es ist keine bürgerliche Farbe“, sagt Overath. „Blau ist die Farbe des Nichtankommens.“

Nichtankommen, das ist ihr Thema. Denn sie schleppt das Trauma ihrer aus dem Sudetenland vertriebenen Eltern, deren Fluchtpunkt ein unerreichbares „Zuhaus“ war, mit sich herum. Einmal habe sie als Kind, erzählt Overath, ein blaues Schüsselchen fallen lassen. „Das kannst du nie wieder gutmachen“, habe die Mutter gesagt. Das Schüsselchen war von „zuhaus“.

Trotz der geerbten Heimatlosigkeit hat sie es gewagt, vor fünf Jahren von Tübingen in ein Schweizer Bergdorf im Engadin zu ziehen. Engadin – Garten des Inn. „Ein transitorischer Ort an der Grenze zu Italien und Österreich. Mit dem Inn, der ins Schwarze Meer fließt“, sagt sie. Der Inn ist ein wilder Fluss, der in fast weißem Türkis durchs Tal drängt.

Overath hat eine Utopie verwirklicht, ist ausgewandert an den Ort ihrer Träume. „Hier darf ich fremd sein, deshalb ist es jetzt mein Zuhause“, sagt sie. Sie wohnt im „chasa azura“ – im blauen Haus. Alle Blumen, die sie auf den Fensterbänken hat, sind blau: Hornveilchen, Lavendel, Glockenblumen, Rittersporn. Ihre Lieblingsfarbe? „Indigo.“

Wie sie sich dieser neuen Heimat genähert hat, das hat sie aufgeschrieben, in ihrem letzten Buch. „Alle Farben des Schnees“ heißt es. In Sent, dem Dorf, wo sie wohnt, ist der Schnee wie ein heller Mantel, den sich die Berge umlegen. Mitunter auch im Sommer. Manchmal spiegelt sich der Himmel im Weiß. Dann ist der Schnee blau.

Im Buch erzählt Overath vom Alltag der Einheimischen, die – umgeben von dieser steinigen Kulisse, die sich von Wolken einkleiden lässt und den Horizont verstellt – ein Leben leben, zu dem sie nur langsam Zugang findet. Es liegt nicht nur am Fremdsein, es liegt auch an der Sprache. Im Engadin wird rätoromanisch gesprochen. Sprache ist Heimat, die sie nicht hat. Sie versucht, Räteromanisch zu lernen. Anders als ihr Sohn, ihr Mann ist sie bisher gescheitert.

Aber Blau, zurück zum Blau. Was siehst du blau? „Was blau ist“, antwortet sie und zählt auf: „das Meer, der Himmel, die Fensterläden, dein Hemd. Und dann natürlich eine Bereitschaft für blaue Schatten.“

Blaue Schatten, Vergänglichkeit, Biografie. Um die zu erzählen, ist keine Zeit. Sie muss zurück an den Computer. Aber sie verschenkt ihren Roman „Nahe Tage“, sagt „lies“ und empfiehlt einen Spaziergang in die Wiesen beim Dorf. Die sind blau mit Natternkopf, Skabiosen, Glockenblumen, wildem Salbei. An einer Pfütze vor einer Bank trinkt ein Schwarm Bläulinge. Hunderte.

Kobaltblau

Das Buch erzählt von einer Mutter, die alles versucht, ein Kind nur für sich zu haben, und wie das Mädchen, das sie dann kriegt, sich langsam aus dieser Umarmung herausschält. Dabei bleibt Haut hängen. Eins zu eins kann man das Buch lesen, es sei ihr Leben. Weil das Thema eigentlich „blau“ ist, sagt sie noch einen Satz, der nicht drinsteht: „Blue Jeans, das war für mich eine Offenbarung. Blue Jeans war Rebellion gegen eine depressive Übermutter und einen Vater, der ständig im Irrenhaus landete.“

Selbst wollte sie später unbedingt Kinder. Sie erden sie. „Ich wäre ohne meine Kinder weniger glücklich.“ Was sie zudem noch sagt: dass sie dankbar sei, dass sie im Dorf leben kann und dass es auch blaues Feuer gebe und blaues Licht.

Wurde Goethes Farbtheorie eigentlich je widerlegt? „Nein, aber bestätigt von Kandinsky.“

Overath ist Autorin und Journalistin. Preisgekrönte. „Jede Beschreibung verändert die Welt“, sagt sie. „Blau, das ist ’ne Haltung – auch für mich als Reporterin: Horizont, Staunen, an Grenzen gehen.“ Es kann sicher Leute geben, deren Haltung Rot ist, die brennen. „Aber mich rettet das Vertrauen ins Staunen.“