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Archiv-Artikel

Grausames Massaker könnte eine tiefe Wende auslösen

NIGERIA Das muslimische Establishment fordert einen konsequenten Einsatz gegen Boko Haram

VON DOMINIC JOHNSON

BERLIN taz | Nigeria steht unter Schock, nachdem einer der schwersten Terrorüberfälle der Geschichte des Landes vermutlich mehrere hundert Tote gefordert hat. Medienberichten zufolge fielen am Freitagnachmittag über 200 Menschen einer koordinierten Serie von drei Bombenanschlägen, flankiert von gezieltem Gewehrfeuer, mitten in einer der wichtigsten Moscheen zum Opfer. Bilder nach der Anschlagsserie aus der zentralen Moschee von Kano, der größten Stadt im muslimisch geprägten Norden Nigerias, zeigen Dutzende verkohlter Leichen.

Kurz vor den Freitagsgebeten, so berichteten Augenzeugen, explodierten zwei Sprengsätze nacheinander in dem Gotteshaus, ein dritter vor dem Eingang. Im nachfolgenden Chaos fielen zahlreiche Schüsse, die offenbar gezielt auf die Gläubigen abgegeben wurden. „Ich sah leblose Körper, als ich die Flucht ergriff“, berichtete gegenüber der Tageszeitung Vanguard Imam Inuwa, ein alter Geistlicher aus einem Außenviertel von Kano.

Die offizielle Todeszahl wurde am Samstagabend mit rund 120 angegeben. Ein Mitarbeiter einer Leichenhalle eines Krankenhauses sagte, man habe ihn angewiesen, mit dem Zählen der Toten aufzuhören, als er bei 105 angekommen war – und das sei lediglich in diesem einen Krankenhaus gewesen.

Geistliche mit Klartext

Die zentrale Moschee von Kano liegt neben dem Palast des Emirs, des zweithöchsten muslimischen Geistlichen des Landes. Dieses Amt bekleidet der ehemalige Zentralbankchef Lamido Sanusi, den die Regierung entlassen hatte, nachdem er auf das spurlose Verschwinden von Öleinnahmen in Milliardenhöhe aufmerksam gemacht hatte. Sanusi hatte vor wenigen Tagen die Bevölkerung in Kano aufgerufen, sich gegen die islamistische Untergrundarmee Boko Haram zu stellen, die weite Gebiete des nigerianischen Nordostens in Bürgerkriegszonen verwandelt hat. Kano liegt außerhalb des Kernlandes von Boko Haram. Am Samstag besuchte der Emir die Moschee und sagte: „Wir werden uns nicht einschüchtern lassen, unsere Religion aufzugeben, was das Ziel der Angreifer ist.“ Auch Nigerias oberster muslimischer Geistlicher, der Sultan von Sokoto, sagte in der Hauptstadt Abuja: „Wenn die Täter Muslime sind, tun sie nicht, was der Islam lehrt … Die Zeit ist gekommen für die muslimischen Strömungen im Land, sich zusammenzuschließen, um den Aufstand zu beenden.“ Solche klaren Worte zeugen davon, dass das nordnigerianische Establishment sich jetzt an vorderster Front im Kampf gegen Boko Haram sieht.

Schon seit Monaten werfen die Politiker des Nordens der Regierung Nigerias vor, nicht entschlossen genug gegen Boko Haram vorzugehen. Präsident Goodluck Jonathan, ein Christ aus dem Süden, erklärte am Samstag, er habe die Sicherheitsbehörden angewiesen, auf der Suche nach den Mördern „keinen Stein auf dem anderen zu lassen“.