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Archiv-Artikel

GENTRIFIZIERUNGSGEGNER GELTEN HEUTE ALS STRUKTURKONSERVATIV. ABER DIE SACHE IST KOMPLIZIERTER Die Zugezogenen, das sind die anderen

MATTHIAS LOHRE

Neulich begleitete ich ein Monster auf den Weihnachtsmarkt. Auf den ersten Blick wirkte es ganz sympathisch. Dunkelblond, offene Gesichtszüge, lustiger Akzent. Mein neuer Nachbar Edvin ist gerade aus Kopenhagen hergezogen, verdient gut und zahlt für seine Dreizimmerwohnung, die er allein bewohnt, eine hohe Miete. Ganz klar: Er ist ein Gentrifizierer. Wenn er das bloß verstünde.

„Ich verstehe nicht ganz“, sagte Edvin und wärmte sich an seiner Tasse Bio-Glühwein: „Indem ich nach Berlin ziehe, tue ich etwas Böses?“ – „Ist doch ganz einfach“, antwortete ich: „Andere Leute, die hier wohnen und weniger Geld verdienen als du, müssen nach und nach ausziehen, weil sie die steigenden Mieten nicht mehr zahlen können. Das nennen wir Gentrifizierung.“

„Das tut mir leid“, sagt Edvin mit sanfter Stimme. „Aber ich zahle einfach die Miete, die mein Vermieter verlangt. Seine Familie wohnt seit drei Generationen hier“, sagte er. „Ist er nicht der Gentrifizierer?“ – „Nein. In Berlin leben 3,45 Millionen Menschen. 2,9 Millionen davon wohnten 1990 noch nicht hier. Die wenigen Berliner, deren Familie seit Generationen hier lebt, behandelt man deshalb so, wie sie selbst es leider nicht können: freundlich.“ – „Aber die 2,9 Millionen anderen, das sind alles Gentrifizierer?“ – „Es gibt große Unterschiede“, sagte ich. „Wer einige Zeit nach dem Mauerfall aus der westdeutschen Provinz nach Berlin gezogen ist, ist verdächtig und wird ‚Schwabe‘ genannt.“ – „Was heißt das?“ – „Außerhalb Schwabens: nichts Gutes.“ – „Und wer nennt die Zugezogenen so?“ – „Leute, die vor oder kurz nach dem Mauerfall aus der westdeutschen Provinz nach Berlin gezogen sind.“

„Verstehe“, sagte Edvin und blickte auf meine Glühweintasse. „Du bist danach hergezogen. Du bist also ein Gentrifizierer?“

„Ach Quatsch. Ich kam ja auch wegen der niedrigen Mieten. Heute machen die verdammten Zugezogenen die Preise kaputt.“

Edvin biss sich auf die Lippen und sagte: „Wann fing das Ganze an?“

„Mal sehen: Zu DDR-Zeiten zogen SED-Funktionäre nach Ostberlin. Die nannte man ‚die Sachsen‘. Im 19. Jahrhundert kamen Hunderttausende Polen als Fabrikarbeiter her. Und um 1700 war jeder fünfte Berliner Hugenotte.“ – „Tröpfcheninfektion?“ – „Französische Glaubensflüchtlinge.“ – „Flüchtlinge können Gentrifizierer sein? Und Gentrifizierungsgegner hassen Ausländer?“ Das Monster wirkte verwirrt.

„Natürlich nicht“, sagte ich. „Ein Beispiel: In Kreuzberg gibt es den Görlitzer Park. Sehr abgewrackt, Drogendealer. Viele Flüchtlinge verbringen da ihre Zeit. Ein Anwohnervertreter sagte der taz, ich lese mal vor: ‚Es gibt auch viele Anwohner, die haben eine berechtigte Angst, wegen der steigenden Mieten bald nicht mehr in der Gegend wohnen zu können. Die hoffen: Solange der Park aussieht, wie er aussieht, ist das auch ein Bollwerk gegen die Gentrifizierung.‘ Die wollen, dass alles so bleibt, wie es ist.“

DIE FÜNFTAGEVORSCHAU KOLUMNE@TAZ.DE

Donnerstag Margarete Stokowski Luft und Liebe

Freitag Michael Brake Kreaturen

Montag Anja Müller Zumutung

Dienstag Deniz Yücel Besser

MittwochMartin ReichertErwachsen

„Jetzt verstehe ich“, rief Edvin und lächelte: „Gentrifizierungsgegner sind konservativ!“

„Nein, die sind links.“

„Verstehe“, sagte Edvin leise, „verstehe.“