piwik no script img

Archiv-Artikel

Sie nennen es Essen

Inszenierung und Fiktion: Einblicke in die Heimatvertriebenenküchen von Berlin-Mitte, dargelegt an Beispielen von Lokalen wie „St. Oberholz“ und „Lebensmittel in Mitte“

VON TILL EHRLICH

Jeder kennt die Situation: Man speist in Berlin und fühlt sich öde. Eigentlich möchte man etwas anderes erleben als Thaicurry, Döner oder Sashimi, doch jedes Mal ist man enttäuscht. Man zieht in die kulinarische Fremde und sucht den asiatischen Imbiss auf, um eine Leichtigkeit zu finden, die es dort garantiert nicht gibt.

Man isst asiatische Sprossen, trinkt Jasmintee und glaubt, dass man davon nicht fett wird und dass das alles irgendwie gesund sei. Dabei muss man übersehen, dass meist unfrische und billige Zutaten verwendet werden, das Öl, in dem Frühlingsrollen gebacken werden, ranzig ist und die Speisen stets leicht überwürzt sind. Eigentlich nimmt man Nahrung nur deshalb dort auf, weil man auf der Suche nach sich selbst ist. Man genießt das Fremde und fällt automatisch auf sich selbst zurück. Letztlich geht man nur aus, um Innerlichkeit zu erleben: Man bleibt sich selbst fremd.

Wie ist es aber mit den Speisen der heimischen Küche, also den Düften und Geschmäckern der Kindheit, mit denen man aufgewachsen ist und die man hinter sich gelassen hat, wie die Provinz, die man aus gutem Grund verlassen hat? Provinzküche ohne Bezug und ohne Ort erscheint lächerlich wie ein König ohne Land, da ist das Heimische im Unheimlichen verborgen.

Die Sehnsucht der Heimatlosen und Entwurzelten ist eine Vertriebenenküche. Über deutsche Heimatküche in urbanen Lebenswelten zu Zeiten der Spätpostmoderne nachzudenken, ist daher auch irgendwie heikel. In Berlin, wo es viele gibt, die aus irgendeinem Provinzkaff stammen, passiert es zwangsläufig, dass sie irgendwann Heimweh nach Stampfkartoffeln, Grünkohl oder Speckscholle bekommen.

Doch deutsche Provinzküche ist in Berlin kaum anzutreffen. Hat man ein Restaurant entdeckt, haftet ihm meist ein Geschmäckle, ja der Hautgout von Peinlichkeit an, ob es nun eine Lokalität ist, die „Thüringer Stuben“, „Ständige Vertretung“ oder „Zur Schwabenpfanne“ heißt. Zudem sind die Küchenleistungen, also Originalität und Geschmack der Speisen, meist nicht halb so gut wie in der Region selbst.

Seit einiger Zeit gibt es zwei exponierte Orte in Berlins Mitte, an denen mit Heimatküche so spielerisch umgegangen wird, dass es weder peinlich noch uncool ist: das „St. Oberholz“ und „Lebensmittel in Mitte“ (LiM). Während die Zukunft als Nostalgie im St. Oberholz am Rosenthaler Platz schon begonnen hat und sich dort die sogenannte digitale Boheme den Begriff Heimat fiktional erschafft, geht man bei LiM den entgegengesetzten Weg.

Bei LiM dampft es aus der Küche, es duftet nach gebratenem Rauchfleisch und gedämpftem Kohl. Hier infiziert man sich blitzschnell und bereitwillig mit dem Manufactum-Virus, wenn man die knarrenden Dielen betritt, die Brotlaibe und Würste sieht, die sich über der Theke stapeln, welche an einen Kaufmanns- oder Kolonialwarenladen von vor hundert Jahren erinnert. Es gibt lange Tische, ein Hirschgeweih, im Sommer Kirschen aus Werder und in der Weihnachtszeit Pfefferkuchen aus Pulsnitz.

Hier schafft man spielend, was Manufactum mit seinen Läden bis heute nicht gelungen ist, nämlich die Gegenwärtigkeit guter Produkte zu inszenieren. Jeder hat hier seinen Auftritt: der frisch gemachte Leberkäse, das handwerklich gebraute Klosterbier aus Bayern, die Frau hinter der Theke und der Mitarbeiter aus der Agentur von gegenüber, der seinen Imbiss einnimmt. Man geht nicht allein wegen der Inszenierung hin, sondern weil auf dieser höchst raffinierten Bühne auf Substanzielles, nämlich gute Produkte und Speisen, verwiesen wird. Der Schweinsbraten mit Bayrischkraut oder das badische Schäufele mit Stampf werden in einer Qualität gereicht, dass man am Ende aufsteht und sich einen Löffel holt, um den delikaten Bratensaft bis zum allerletzten Tropfen vom Teller zu löffeln.

Es ist eine süddeutsche Küche mit original gekochten Speisen aus der badischen, schwäbischen, bayerischen und fränkischen Küche. Dies wird ernst genommen, auch wenn die Inszenierung noch so künstlich ist und die Betreiber und Gäste manchmal wie Zombies wirken. Die echte bayerische Küche wird hier zwar präsentiert, aber um sie echt zu erleben, müsste man in Bayern ins Wirtshaus gehen, wo man mit echten Bayern konfrontiert wird, die einen anstarren und „schmeckt’s?“ fragen – und zwar auf Bayerisch. Unwahrscheinlich, dass das die Gäste von LiM gern aushalten möchten.

Auch im St. Oberholz gibt es lange Holztische und ein Geweih. Doch es ist kleiner und verkümmerter, nur ein Zitat. Hier wird ebenfalls virtuos eine heimatliche Welt nachgestellt. Doch sie ist verborgen, weil man erst dann in ihr vorkommt und dazugehört, wenn man ein Notebook mit W-LAN-Anschluss dabei hat. Überall sitzen Leute herum, die stundenlang im St. Oberholz verweilen und an ihren Rechnern arbeiten.

Was sie miteinander verbindet, ist der Netzwerkzugang des Cafés. Wer online ist, kann sehen, wer ihm gegenüber sitzt, weil der Name vom Netzwerk angezeigt wird. Es ist ein unheimliches Treffen im Netz. Weil einem eine Fiktion gegenübersitzt, weil man sich mailt, statt zu sprechen, ist man sich auch kein Gegenüber. Es ist die virtuelle Welt der Projekte und Images, in der man innerhalb der eigenen Legende und der des anderen kommuniziert, aber sich Gott sei Dank nicht begegnet. Letztlich ist es ebenso ein Fake wie die Speisen, die mit historisierenden Anspielungen versehen und gepriesen werden.

So heißt der Bagel mit Räucherlachs „Kaiser Wilhelm“, der mit Salami „Briefträgereisbein“ und der mit Serranoschinken „Atze und Keule“. Und Krombacher-Bier wird zur „Molle“ umbenannt. Es ist Billigfood. Dadurch, dass man nicht sagt, was es wirklich ist, bekommt es eine Patina, die das Äquivalent zur Scheinhaftigkeit der Netzwerker bildet. So bekommen die Leute, die Speisen und Getränke einen historischen Glanz ohne Substanz. Man beruft sich dabei auf die Tradition des Ortes, der einst von den Gebrüdern Aschinger begründet wurde. Und auf Alfred Döblin, der dort in den 1920er-Jahren geschrieben haben soll.

Das heutige Heilsversprechen ist: Du gehörst dazu. An diesem Punkt kommen St. Oberholz und LiM zusammen. Sie ermöglichen eine fiktionale Gemeinschaft, in der etwas zählt, was einen Namen hat. Im Netzwerk oder auf der Bühne von LiM in ihrer ganzen verhangenen Melancholie. Nähe? Keine Chance. Heimatküche ist der Ersatz für die Ferne.

Solche Orte hat es immer gegeben, sie sind entwurzelt wie Flugsand, der stets weitertreibt und -getrieben wird; dorthin, wo die Szene gerade ihre Zelte aufschlägt. Der Flugsand bildet Dünen, irgendwann ist Windstille, alles verdorrt und der Flugsand bildet sich andernorts neu. Gestern in Prenzlauer Berg, heute in Mitte und morgen ganz bestimmt anderswo.

TILL EHRLICH, 42, lebt, wo alle wohnen, im Prenzlauer Berg. Nicht mehr lang: Er zieht in den Yorckstraßenkiez, wo neben den Autohöfen noch kein Flugsand gelandet ist. Zuletzt erschien von ihm: „200 Fragen zum Wein. Ehrlich beantwortet“. Hallwag Verlag, München 2006, 208 Seiten, 14,90 Euro