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Archiv-Artikel

Verfallsdatum abgelaufen

Alles was frisch und knackig ist, hat bekanntlich auch eine ziemlich kurze Haltbarkeitsdauer. Der Stadt Berlin ergeht es in diesem Punkt nicht anders als herkömmlicher Frischware: Es glänzt und bezaubert zu Beginn, verwelkt dann aber umso schneller. Das Verfallsdatum des Berlinrausches beträgt in der Regel, je nach Gemüt, ein Jahr bis maximal fünf Jahre.

Bezeichnender Weise sind viele junge Zugezogene vor ihrem Umzug nach Berlin höchstens ein-, zweimal bis gar kein Mal in der Stadt gewesen. „Ich kam, direkt mit den Umzugskisten, zum ersten Mal nach Berlin“, erzählt die junge Studentin aus der Nähe von Köln. Und auch die 27-jährige Jungjournalistin aus Frankfurt erinnert sich: „Ich bin Hals über Kopf hergezogen. Ich wollte endlich allein leben.“

Ein Umzug in die deutsche Hauptstadt ist in den meisten Fällen das Ergebnis einer Spontanentscheidung, was vielleicht auch als ausschlaggebendes Indiz für die mangelnde Zukunftsorientierung dieser Entscheidung zu deuten ist. Tatsächlich erleben die wenigsten Zuzügler Berlin als Ankunftshafen auf ihrem Weg, sondern als erste Station von was auch immer.

An der Humboldt-Universität Berlin sind fächerübergreifend die meisten Studenten, die sich für das Wintersemester 2006/2007 immatrikulierten, ausländischer Herkunft. Das bedeutet, dass sie ihr Studium nicht in Berlin beenden werden, sondern nach zwei Jahren in ihre Heimat zurückkehren.

Auch wenn die Zuzüge nach Berlin weiterhin deutlich über den Fortzügen ansteigen, scheinen sich sowohl Studenten als auch Berufstätige die Option, Berlin zu verlassen, immer offenhalten zu wollen. Nur die wenigsten wollen bleiben.

So unterschiedlich die privaten Gründe für den Wunsch, Berlin wieder zu verlassen, sein mögen: Alle Gründe, die starke Anreize zum Zuzug nach Berlin waren, verlieren nach einer gewissen Zeit ihre Attraktivität. Die Erwartungen, die anfangs an die Stadt gestellt wurden, wurden meist erfüllt, hin und wieder gar übertroffen.

So schön der Traum, am Glanze Berlins teilzuhaben, auch sein mag, eines fehlt in jedem Fall in dieser Stadt: Ruhe und Beständigkeit.

In ihrer Jugend und ihrer Gier nach Abenteuer und Freiheit verlieren sich die jungen Menschen in ihrer Suche immer weiter von sich selbst: So bestätigen es alle Befragten. Ist einmal die Faszination des ersten Augenblicks verflogen, stehen sie vor der gähnenden Leere ihrer Illusionen.

„Das Problem an Berlin ist, dass es keinen Hintergrund hat, es ist einfach zu schnell gewachsen. Man findet hier nichts Konkretes, nichts Greifbares. Alles, was zu holen ist, ist nur Oberflächlichkeit. Das Schlimmste ist der Mangel an Vertrautheit und an echter Freundschaft.“

Egal ob man nun fünf Monate oder fünf Jahre bleibt, Berlin geht nicht einfach an einem vorbei. Viele behaupten von sich selbst, sie seien härter geworden, seien nicht mehr so naiv wie früher, seien desillusioniert worden. Paradoxerweise dient die Stadt, in der sich die ewigen Kinder zu verstecken versuchen, als Hort für den ganz persönlichen Reifeprozess: das Erwachsenwerden. ANNABELLE HIRSCH