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Archiv-Artikel

Auf dem Rückweg, aus Notwehr

Von Menschen, die auszogen, Berlin wieder zu verlassen, um sich selbst wiederzufinden. Erzählungen aus der Welt der Standortwechsel nebst einem Kollateralschaden

PROTOKOLL MARTIN REICHERT

Petra Schmiedeeisen, 32, gebürtige Schleswig-Holsteinerin, ist Lehrerin und lebt in Wiesbaden. Von 1996 bis 2004 studierte sie in Berlin.

Wenn ich nach Berlin fahre, dann ist das wie ein Nachhausekommen – und gleichzeitig bin ich so froh, dort nicht mehr wohnen zu müssen. Ich hatte in Berlin immer das Gefühl, wie gelähmt zu sein. Und wenn ich mir meinen Freundeskreis anschaue, dann kommen unangenehme Erinnerungen hoch: Die haben alle schöne Sachen und Projekte im Kopf, aber es wird nie was draus. Sie kommen mir hängengeblieben vor, während ich jetzt in Wiesbaden auf der Erwachsenenschiene unterwegs bin. Früher waren diese Freunde mein ein und alles: Man braucht ja in Berlin eine Gruppe, sonst schafft man das nicht. Selbstverständlich besuchen sie einen niemals, denn es wäre ja für sie viel zu anstrengend, sich aus der Stadt zu bewegen. Sie genügen, finde ich, am besten sich selbst.

In Frankfurt am Main wird ja auch richtig gearbeitet, in der Woche gibt es dort zwei Millionen Einwohner und am Wochenende nur noch fünfhunderttausend. Wenn man abends weggeht, sieht man überall Menschen in Anzügen, die gerade aus dem Büro kommen. In den Fußgängerzonen erkennt man Menschen mit glücklichen Gesichtern. Die sind glücklich, weil sie gerade shoppen gehen und es sich leisten können. Das gibt es in Berlin nicht, klar, es arbeitet ja auch niemand. Man geht deshalb auch nicht shoppen, schon gar nicht in der Fußgängerzone. Stattdessen rennen in Berlin lauter Kampfmaschinen herum, die immer gerade verbissen irgendwas auf die Reihe bekommen müssen und es aufgrund aller möglichen Widrigkeiten nicht schaffen.

Das ist schon seltsam: Als Kind hatte ich durch die Erzählungen meines Vaters, er und seine Eltern waren Vertriebene, immer nur Kriegsbilder aus Berlin im Kopf: Trümmer, Ruinen, abgerissene Menschen. Als ich dann selbst nach Berlin kam, war ich ganz überrascht, wie schön es in Berlin ist und dass es tatsächlich viele Häuser gibt, die noch intakt sind.

Selbstverständlich vermisse ich dieses jugendliche Vor-sich-Hinleben manchmal auch, dieses So-vor-sich-Hinschlampen ohne Sinn und Verstand. Interessierte sich ja auch keiner dafür, was man so trieb. In Berlin kann man sowieso alles immer machen: nachts um elf essen gehen oder nachmittags um zwei frühstücken. In Wiesbaden gibt es zum Beispiel so etwas wie eine Mittagspause – das war wie ein Schock, als ich dort das erste Mal vor einer verschlossenen Ladentür stand.

Ich wohne eben jetzt wieder in Fußgängerzonendeutschland. Es gibt so etwas wie ein soziale Kontrolle. Meine Schüler erzählen dann am nächsten Tag: „Hey Frau Schmiedeeisen, sie sind gestern gesehen worden.“ Wenn man ein Loch in der Hose hat, dann muss man das reparieren, sonst ist das ein Thema, auf das man angesprochen wird. Für diese Details ist man genau genommen verkorkst, wenn man zu lange in Berlin gelebt hat – dafür finden es meine Schüler super, dass ich mal in Neukölln gewohnt habe. Cool sei das.

Als ich das letzte Mal in Berlin war, habe ich mich vor lauter Aufregung, wieder dort zu sein, verfahren.

Anne Korb, 40, ist Anwältin und Mutter in einer Kleinstadt bei Nürnberg. Sie lebte von 1995 bis 2002 in Berlin, weil sie dort ihre erste Stelle gefunden hatte. Sie stammt aus dem Rheinland.

Als ich das letzte Mal in Berlin war, habe ich schon auf der Avus geweint. Es ist eben so, das die Stadt noch immer ein Teil von mir ist – ich habe in der Tat noch immer einen Koffer in Berlin.

Am Anfang wusste ich ja gar nicht, dass die Stadt so interessant ist. Ich wusste nur, dass die Ausübung meines Berufs als Juristin nicht so spannend sein würde, also wollte ich wenigstens an einem interessanten Standort arbeiten. Das war dann auch so: Ich war immer unterwegs, habe mir die Bautaucher am Potsdamer Platz angeschaut, war in total abgedrehten Kneipen in Kreuzberg und elegant zum Essen in Charlottenburg.

Gewohnt habe ich spießig in Schmargendorf – da war es eigentlich genauso wie zu Hause. Alle Teile meiner Persönlichkeit zu leben an einem Ort: das war großartig. Auch weil ich damals ja noch gar nicht genau wusste, wer ich eigentlich bin.

Im Laufe der Zeit entstand dann so eine Hassliebe zu dieser Stadt. Man braucht 45 Minuten, um mal eben mit einem Freund einen Kaffee zu trinken. Schwierig, wenn man voll berufstätig ist. Auf der einen Seite macht einen die Stadt total offen, auf der anderen Seite findet man niemals Ruhe, nie seine Mitte. Das ist ein extremes Gefühl von Freiheit, das ich sehr geschätzt habe. Und das mir manchmal Angst gemacht hat. Ich fand es aufregend, nachts um zwei Uhr im Stau auf der Stadtautobahn zu stehen, weil immer noch so viel Betrieb war. Und es war auch beklemmend: Häuser, nichts als Häuser und kein Weg nach draußen. Man verliert sich leicht in all den Möglichkeiten, die Berlin bietet. Man verliert sich leicht selbst. Und doch hat mir Berlin eine Heimat gegeben, die mit Familie nichts zu tun hat – es ist, als ob ich der Stadt einen Teil meiner Seele verkauft hätte. Und dafür hat sie mir auch etwas geschenkt.

Ich habe mich in Berlin emanzipiert, und jetzt macht es mir nichts mehr aus, in geordneten, kleinstädtischen Verhältnissen zu leben. Im Gegensatz zu früher erdrücken sie mich nicht mehr. Ich wollte eine Familie gründen, und ich finde, dass das hier in dieser Umgebung viel leichter ist als in Berlin.

Wenn ich noch länger in Berlin geblieben wäre, hätte ich den Absprung nicht mehr geschafft. Man wird mit der Zeit schräg in dieser Stadt. Sie macht süchtig. Nach immer neuen Reizen und Kicks. Irgendwann ist man dann mit nichts mehr zufrieden. Unruhig. Nervös. Genau genommen bin ich nicht aus Berlin weggezogen, sondern geflohen. Es war, als ob man einen Mann verlässt, den man abgöttisch liebt und der einem nicht guttut. Es war Notwehr.

Marcel Atlas, 34, ist Journalist und lebt seit 1996 in Berlin, wo er auch studierte. Weggehen möchte er, nach Lage der Dinge, auf gar keinen Fall.

Sie wollen alle, dass man sie besucht. Aber warum soll man eigentlich jemanden besuchen, der einen verlassen hat? Es ist jedes Mal sehr traurig, wenn jemand einfach so aus deinem Leben verschwindet.

Von Berlin aus nimmt man das dann so wahr, um sich aufrechtzuerhalten: Wieder jemand, der es nicht geschafft hat, es nicht mehr ausgehalten hat! Es ist ein Verrat an einem gemeinsamen Schwur. Der Schwur geht so: Wir sind hier alle zusammen hergekommen, um das Beste aus uns und unserem Leben zu machen. Wir helfen einander dabei, lassen uns niemals im Stich. Wenn einer krank ist, kommen wir vorbei und kochen Hühnersuppe. Wir schleppen notfalls die Kohlen aus dem Keller hoch, damit der andere nicht erfrieren muss. Wenn einer aus unserem Zirkel der Verschworenen anruft und hilflos sagt, dass er nicht mehr kann – etwa, weil sich herausgestellt hat, dass die große Liebe des Lebens, die man gerade zu finden geglaubt hatte, mit der Barschaft über alle Berge verschwunden ist und die halbe Wohnung zertrümmert hat –, dann setzt man sich sofort in die Bahn und fährt auch durch die halbe Stadt, um Trost zu spenden. Bei Nervenzusammenbrüchen braucht man jemanden, der einem die Hand hält. Und der Nervenzusammenbruch ist hier nun mal alltäglich.

Teil des Schwures ist es, nie wieder zurück in die Provinz zu kriechen. Warum auch? Man war ihr doch gerade erfolgreich entkommen. Erlaubt ist dies allenfalls an Weihnachten, aber das liegt auch nur daran, dass wir eine Generation von Weicheiern sind: Untern Tannenbaum zu Mutti und Vati nach Hause – das war erlaubt.

Fährt man dann tatsächlich aus Berlin wieder weg, um die Abtrünnigen zu besuchen, wird es schwierig. Kaum ist man da, wird man durch das Nachtleben gezerrt, obwohl man sich eigentlich auf ein wenig Ruhe und Idylle gefreut hatte – wenn schon, denn schon. Stattdessen soll bewiesen werden, dass auch in Detmold echt was los ist. Wer aber will das wissen?

Man kommt kaum dazu, sich entspannt zu unterhalten, denn stets steht Berlin im Raum, das man gerade mit Mühe und Not verlassen hat – so einfach ist das ja nicht –, und Berlin ist einfach ganz schön groß. Erdrückend. Mächtig. Groß. Die Weggegangenen erklären, warum sie weggegangen sind, es ist, als ob sie sich rechtfertigen müssten. Sie haben ein schlechtes Gewissen. Sich selbst gegenüber?

An alter Stelle, in der Provinz, dient man dann als lebender Beweis, dass die Weggegangenen wirklich dort gelebt haben, von wo aus sie weggegangen sind. Aus Nettigkeit bedient man dann die Klischees, berlinert ein bisschen, ist ein wenig vorlaut und ungehobelt. Erzählt von abgefahrenen Clubnächten, raucht, trinkt. Nächstes Mal frage ich einen dieser Vorstadtmenschen womöglich noch, „obse mal ’n Euro ham“.

Fährt man mit dem Auto, wird man wegen des Berliner Kennzeichens an jeder zweiten Ampel von der Polizei rausgewinkt und auf Drogen kontrolliert. Fliegt man, braucht man länger zum Flughafen als für den Inlandsflug.

Ich möchte ja nur dies sagen: Kommt ihr doch einfach hierher zu uns nach Berlin zurück. Hier ist es schön. Und das wisst ihr verdammt noch mal genau.

MARTIN REICHERT, 34, ist, in Anteilen gerechnet, 0,5-taz-zwei-Autor, 0,4-taz-online-Redakteur und 0,1-Freier-Journalist in Berlin. Er stammt aus Wittlich, Rheinland-Pfalz, arbeitet und lebt gern 0,7 in Berlin (Neukölln, aber nah an Kreuzberg) und 0,3 in Kremmen, Brandenburg