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Archiv-Artikel

Die Möglichkeit einer Insel

Wer nach Berlin kommt, will ihn kämpfen: den einsamen Kampf in der Hauptstadt. Schon vor der Wende war Westberlin die Zuflucht für all jene, die sich gutbürgerlichen Normen und Regeln wiedersetzten: Homosexuelle, Hippies, Punks und Wehrdienstverweigerer. Der große Ruf des Ungesetzlichen lockt noch heute. Für das Jahr 2006 zählte die Stadt 228.000 Zugezogene, meist aus den alten Bundesländern oder dem Ausland. Befragt man nun einige dieser Wahlberliner nach ihren Beweggründen, wird die eine, immer wiederkehrende Antwort sein: „Weil hier alles so frei ist!“

Grenzen und althergebrachte Regeln des Zusammenlebens scheint es kaum zu geben, und wenn, sind sie da, um gebrochen zu werden. Während Jugendliche im Englischen Garten in München wegen eines Jointstummels gejagt werden, feiert die Berliner Bevölkerung Ravepartys im Treptower Park und zieht nach einem Polizeibesuch einfach zur nächsten Location weiter.

Die Grenzen verschwinden: Wird die Trennung zwischen Spreu und Weizen in anderen deutschen Städten sehr genau vorgenommen, so kann man in Berlin das schicke Publikum der Edelrestaurants Borchardt oder Grill Royal einige Stunden später in einem der Technoclubs wiedertreffen. Generell erleben Neuberliner die Stadt, als wäre keines ihrer Elemente beständig, als würde alles in rasantem Tempo ineinanderfließen.

Die ständige Veränderung, die durchlebten Nächte und das Gefühl, an keinerlei Grenzen zu stoßen, faszinieren und reizen vor allem junge Menschen zwischen zwanzig und dreißig Jahren. So beträgt der Prozentsatz der Bevölkerung im Alter zwischen 15 und 65 Jahren in den Hauptzuwanderungsbezirken Mitte, Prenzlauer Berg und Kreuzberg-Friedrichshain 73,4 bis 77,1 Prozent, wobei die Zahl der Personen über 65 weit unter 20 Prozent liegt.

Von dem demografischen Wandel, der allgemeinen Vergreisung, bleibt Berlin durch die Dynamik von Zu- und Abwanderung also verschont, wodurch in den Gemütern die Illusion ewiger Jugend und Unsterblichkeit reift. Der vermeintliche Größenwahn, der aus dem Tempo und der erschlagenden Vielseitigkeit des Ortes entspringt, ist für die Ankunftsphase bezeichnend. Das Gefühl anders zu sein, sich mitten im Leben als Teil eines großen Ganzen zu bewegen: Es ist leicht, sich mit der Stadt zu identifizieren!

In der zivilisierten westlichen Welt fungiert dieses Berlin der jungen Gesetzlosen fast wie die letzte Insel, auf der die Menschen im Naturzustand, wie er bei dem Philosophen Thomas Hobbes beschrieben wird, leben. Dank der Abwesenheit von gesetzlichen und (irgendwie auch) moralischen Grenzen genießt der Einzelne eine absolute Freiheit und kann die Wärme der Anonymität in der Masse genießen. Wie aber Hobbes auch bemerkte, führt diese (schein-)grenzenlose Freiheit zwangsläufig zum Kampf aller gegen alle. Die Insel Berlin zwingt zum andauernden Kampf.

Vielleicht überraschend – oder auch gerade nicht – ist, dass so gut wie jeder der Zugezogenen sich dieser rauen Seite Berlins bewusst ist und vielleicht gerade diese sucht. Originalton eines Neuberliners: „Ich bin letzten Winter aus Abenteuerlust gekommen. Man wird hier ins kalte Wasser geworfen, ist allem ausgeliefert. Man lernt hier, sich selbstständig mit krassen Gegensätzen und Situationen auseinanderzusetzen, schutzlos.“ ANNABELLE HIRSCH