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Archiv-Artikel

„Die meisten kehrten mühelos zurück“

Er nennt erstmals Namen: Biographien und Herrschaftspraxis der NSDAP-Kreisleiter in Schleswig-Holstein hat der Historiker Sebastian Lehmann erforscht. Schleswig-Holstein, resümiert er, bot den Nationalsozialisten besonders fruchtbaren Boden – und tat sich mit dieser Geschichte lange schwer

SEBASTIAN LEHMANN, 36, Anglist und Historiker, arbeitet seit 2006 am Institut für schleswig-holsteinische Zeit- und Regionalgeschichte in Flensburg.

INTERVIEW PETRA SCHELLEN

taz: Herr Lehmann, warum erscheint eine so grundlegende Arbeit wie Ihre erst jetzt?

Sebastian Lehmann: Das hängt damit zusammen, dass es in Schleswig-Holstein seit Jahrzehnten einen enormen Rückstand in der Bearbeitung der NS-Vergangenheit gibt. Die Landeshistoriker haben das Thema in den 80er Jahren als uninteressant und wenig ergiebig abqualifiziert. Erst durch Graswurzel-Historiker, die Vereine und Initiativen gründeten, ist das Thema auf die offizielle Agenda gekommen. 1992 hat die veränderte Stimmung dann zur Gründung des Schleswiger Institutes für schleswig-holsteinische Zeit- und Regionalgeschichte (IZRG) geführt.

Was offenbart Ihre Studie?

Sie ist kein Schocker wie die Wehrmachtsausstellung. Aber sie belegt die tiefe Verwurzelung des Nationalsozialismus in der Region. Denn die Kreisleiter waren die Leute, die das Gesicht des Nationalsozialismus in Schleswig-Holstein prägten. Und die waren in der Regel keine Randexistenzen, sondern kamen meist aus der Mitte der Gesellschaft und hatten eine Schrittmacherfunktion. Sie waren die ersten, die sich dem Nationalsozialismus mit Leib und Seele verschrieben und ihn hoffähig machten. Wenn auf Eiderstedt ein Otto Hamkens, der dort wie Adliger residierte und zu einer der angesehensten Familien gehörte, bereits 1929 das Hakenkreuz trug und gegen die Republik wetterte, dann konnte das nicht schlecht sein. So dachten die Leute.

In Schleswig-Holstein gab es besonders früh NSDAP-Ortsgruppen. Warum?

Der ländlich strukturierte Raum und die protestantischen Kreise, in denen der Nationalsozialismus zuerst Fuß fasste, waren durch die Wirtschaftskrise mürbe gemacht. Außerdem gab es dort ein schon lange existierendes völkisches beziehungsweise antisemitisches, demokratiefeindliches, antikommunistisches und antikapitalistisches Potenzial. Das konnten die Nationalsozialisten leicht aktivieren.

Unterschieden sich die ländlichen Gesellschaften hier von denen anderswo?

Es gab hier in der Tat eine eigene Mixtur an Faktoren: einerseits stark antipreußische Gefühle. Das Zentrum als katholische „Volkspartei“ war hier bedeutungslos. Andererseits war die Landvolk-Bewegung – eine antirepublikanische, völkisch rückwärts gewandte Bewegung hier Ende der 20er Jahre extrem stark. Sie agitierte vehement gegen die Agrarpolitik der Weimarer Republik und war extrem republikfeindlich. Ihr Erstarken muss man auch vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise sehen, die die Bauern in starke Bedrängnis brachte. Da war es leicht, die Landbevölkerung zu radikalisieren. Es gab etliche Bombenattentate und Überfälle gegen die Staatsmacht. Der Landrat von Niebüll hatte eine Bombe vor der Haustür, der Regierungspräsident von Schleswig auch, es gab gewalttätige Auseinandersetzungen mit der Polizei in Neumünster. Es gab riesige Demonstrationen. 1928 gab es Tage, an denen in Schleswig-Holstein fast 150.000 Leute auf die Straße gingen. Die Nationalsozialisten ernteten diese Früchte.

Wie wurde man Kreisleiter?

Es gab keine formalen Qualifikationskriterien. Man musste sich nach nationalsozialistischen Vorstellungen durchsetzen, musste Organisations- und Redetalent haben, sich mit „ganzem Herzen“ für die Bewegung einsetzen, parteiinterne Meriten erwerben. Bis 1933 bestand die Aufgabe oft darin, sich bei Saalschlachten hervorzutun, ehrenamtlich Plakate zu kleben, endlose Dienste und Propagandaauftritte abzuleisten – 15 bis 20 pro Monat.

Wie viel Macht hatten die Kreisleiter real?

Sie hatten formal wenige explizite Rechte. Nirgendwo stand, dass sie Verhaftungen vornehmen oder jemanden ins KZ schicken konnten. Faktisch hatten sie aber unendlich viele Chancen, ihre persönliche Macht auszubauen. Einfach, indem sie Landräten, Oberbürgermeistern und Polizeibehörden gegenüber selbstbewusst auftraten und durchsetzten, dass der oder jener verhaftet wurde. Sie durften allerdings politische Beurteilungen vornehmen, und das war nicht unerheblich: Immer, wenn jemand ein Familiendarlehen brauchte, einen Jagdschein, ein öffentliches Amt oder eine „Ostarbeiterin“ als Haushilfe, dann brauchte er eine politische Beurteilung durch den Kreisleiter. Der wiederum griff hier auf das breite Netzwerk der Partei zurück, das bis zum Blockleiter, den berühmt-berüchtigten „Treppenterriern“ herunter reichte.

Wie viele Kreisleiter gab es in Schleswig-Holstein überhaupt?

Insgesamt mehr als 80. Da es aber nur rund 20 Kreise gab, bedeutet das, das relativ viele Wechsel stattfanden.

Wieso konnten sich diese Leute nach 1945 relativ mühelos wieder in die Gesellschaft eingliedern?

Die meisten von ihnen konnten im Zuge der Entnazifierung die erforderlichen Persilscheine beibringen, die anzeigten, dass sie sich während der „Dritten Reichs“ korrekt verhalten hatten. Natürlich hatten sie sich auch Feinde gemacht. Aber die Allerwenigsten kehrten nach 1945 nicht in ihre Heimat- und Wirkungskreis zurück.

Aus Angst vor Rache?

Kaum. Denn die Leute waren nach 1945 einfach müde und wollten mit all dem in der Regel nichts mehr zu tun haben.

Auch wenn ihnen Täter wieder begegneten?

Es gibt da ein Beispiel aus Dithmarschen. Dort lief kurz nach dem Krieg ein Strafverfahren gegen Kreisleiter Heinrich Nottelmann. Für ihn setzte sich vehement der Vorsitzende des „Komitees ehemaliger politischer Gefangener“ ein. „Irgendwann muss Schluss sein. Das war jugendlicher Leichtsinn, Schwamm drüber“, waren seine Argumente. Und das war nur wenige Jahre nach 1945. Generell kann man sagen, dass die Kreisleiter von der um sich greifenden Schlussstrich-Mentalität profitierten.

War dies ein spezielles Problem Schleswig-Holsteins?

Schleswig-Holstein hatte teils bis in die 70er Jahre ein echtes Problem mit seiner NS-Vergangenheit. Im Kabinett Bartram saß 1950 nur ein Nicht-Nationalsozialist. Nirgendwo gab es so viele Affären um ehemalige braune Funktionäre wie in Schleswig-Holstein.

Warum?

Einerseits war Schleswig-Holstein ein Flüchtlingsland, und bei Flüchtlingen hatte man nicht so genau hingeguckt. Andererseits ist die hiesige ländliche Gesellschaft enger verbunden, sodass Täter eher die Chance hatten, auf Netzwerke zurückzugreifen, um sich zu rehabilitieren. In den 60ern war Schleswig-Holstein so berühmt dafür, Rückzugsgebiet für ehemalige Nationalsozialisten zu sein, dass Ministerpräsident Kai-Uwe von Hassel eigens eine Regierungserklärung abgab, dass dem nicht so sei.

Und Ihre Studie nennt erstmals Namen?

Es ist quasi das erste biographische Handbuch der NS-Prominenz in Schleswig-Holstein, das Namen nennt und die Herrschaftspraxis der NSDAP beleuchtet.

Wie war die Aktenlage?

Es war keine einzige Akte einer schleswig-holsteinischen Kreisleitung erhalten. Denn da die Alliierten nirgends später als in Schleswig-Holstein ankamen, war jede Menge Zeit: Im Mai 1945 haben hier in jedem Rathaushof die Akten gebrannt.

Worauf haben Sie dann zurückgegriffen?

Auf Parallelüberlieferungen: Von offiziellen Schreiben gab es oft Kopien bei anderen Behörden. Außerdem habe ich mich der Personalakten der Kreisleiter bedient. Eine mühsame Arbeit.

Sebastian Lehmanns Dissertation „Kreisleiter der NSDAP in Schleswig-Holstein. Lebensläufe und Herrschaftspraxis einer regionalen Machtelite“ erscheint in der Schriftenreihe des IZRG