: Hartz IV lässt Richter schwitzen
Jeder zweite Fall, der vor dem Sozialgericht landet, dreht sich um Hartz IV. Damit liegt Berlin im Bundesvergleich an der Spitze. Das Gericht glaubt nicht, dass die Zahl der Klagen wieder abnimmt
Im ersten Halbjahr 2007 betrafen von 14.126 neu eingereichten Klagen am Sozialgericht Berlin rund 55 Prozent (7.743 Verfahren) die Arbeitsmarktreform Hartz IV. Die Zahl ist seit dem vergangenen Jahr deutlich gestiegen. Im Januar 2006 gingen an dem Gericht noch 748 Verfahren zu Hartz IV neu ein. Seit August stieg die Zahl dann auf mehr als 1.000 Klagen monatlich an. Die Klagen am Sozialgericht sind kostenfrei und können erst eingereicht werden, wenn ein Widerspruch beim Jobcenter nicht erfolgreich war. 45 Prozent der Hartz-IV-Kläger sind erfolgreich. 83 Prozent der Fälle können laut Gerichtsangaben jedoch unstreitig ohne Urteil geklärt werden. Von 82 Richtern am Sozialgericht der Hauptstadt sind 60 mit Hartz IV befasst. DPA, DDP, TAZ
VON PLUTONIA PLARRE
Rund zweieinhalb Jahre nach Einführung der Arbeitsmarkreform Hartz IV ist die Klageflut am Sozialgericht Berlin ungebremst. Sogar ohne die anfänglichen Geburtswehen im ersten Jahr mitzurechnen, hat sich die Zahl der eingehenden Klagen verdoppelt. Damit nimmt Berlin im bundesweiten Vergleich eine Spitzenstellung ein. „Ein Unternehmen wäre stolz auf so eine Bilanz“, sagte Richter Michael Kanert, Sprecher des Gerichts, gestern vor der Presse. „Für uns ist das aber traurig, weil die Klagen Ausdruck von existenziellen Sorgen und Nöten sind.“
Lange Zeit waren es vor allem handwerkliche Fehler der Jobcenter, die die Hartz-IV-Empfänger vor den Kadi trieben. Das ist laut Kanert inzwischen ganz anders geworden. Die Mitarbeiter der Behörde seien weitestgehend mit der Materie vertraut, die Softwareprobleme gelöst. Trotzdem betreffen von den 14.126 im ersten Halbjahr 2007 neu eingereichten Klagen rund 55 Prozent Hartz IV. Gemessen an der Masse der Entscheidungen, die in den Jobcentern täglich ergehen, sind das eigentlich gar nicht so viele Verfahren. Unter Berufung auf Angaben der Jobcenter wird laut Kanert nur gegen 1 Prozent der Bescheide geklagt.
10 bis 20 Prozent der Klagen, die beim Sozialgericht eingehen, richteten sich gegen die Untätigkeit der Behörde. Die Übrigen hätten eine Vielzahl von Gründen: Über die vom Jobcenter bemessene Mietzahlung gibt es genauso Streit wie über die Berechnung von Nebentätigkeiten und um die Frage von Bedarfsgemeinschaften. Eine Bedarfsgemeinschaft bilden etwa unverheiratete Lebenspartner, die sich finanziell unterstützen, wenn sie in einer Wohnung leben. Auch junge Menschen ohne eigene Einkünfte müssen bis 25 bei ihren Eltern wohnen bleiben, wenn diese Hartz-IV-Bezieher sind.
Dies gilt jedoch nicht immer, wie Kanert berichtete. Ein 20-Jähriger durfte ausziehen, so das Sozialgericht, weil sein Vater Alkoholiker ist. Denn dieser Zustand sei dem Sohn nicht länger zuzumuten. Keinen Erfolg hatte hingegen eine 19-Jährige mit ihrer Klage. Die Frau wollte aus der elterlichen Wohnung ausziehen, weil sie immer durch das Durchgangszimmer ihrer 16-jährigen Schwester laufen musste. Das Gericht gab dem Jobcenter recht: Ein Durchgangszimmer rechtfertige keinen Anspruch auf die Gründung einer eigenen Bedarfsgemeinschaft.
„Unser Ziel ist es, Konflikte zu lösen und den Rechtsfrieden wiederherzustellen“, so Kanert. Als Beispiel verweist er auf die Rechtsprechung des Gerichts zum Thema Klassenfahrten. Kinder von Hartz-IV-Empfängern müssen nicht zu Hause bleiben, weil sich das Jobcenter bei der Bewilligung des Fahrtkostenzuschusses zu knauserig zeigt.
Kaum Hoffnung macht sich Kanert allerdings, was die Arbeitsbelastung des Gerichts angeht: Die Zahl der Klagen werde so hoch bleiben, wenn nicht sogar noch steigen. Behörden und Gericht müssten dabei aufpassen, dass sie nicht das Vertrauen der Leute verspielten, warnt der Richter. „Man muss sich Zeit nehmen, zuhören und die Entscheidung erklären.“