Reformschule ganz vorn

VORBILD Die „Integrierte Gesamtschule“ in Göttingen galt früher als Schule für „Idioten“. Heute ist sie auch unter den Gymnasiasten die erste Wahl

Wenn in den 90er-Jahren in Göttingen von der Georg-Christoph-Lichtenberg-Gesamtschule die Rede war, dann fiel oft dieses Wort, das alle Vorbehalte zusammenfasste: „Idioten-Gesamt-Schule“ oder einfach nur „IGS.“ Das Akronym für die „Integrierte Gesamtschule“ ist heute noch gebräuchlich. Von „Idioten“ aber spricht schon lange niemand mehr. Denn keine andere weiterführende Schule ist in der Stadt so beliebt – auch unter Kindern mit Gymnasialempfehlung.

Und das, obwohl es doch für den Nachwuchs der akademischen Elite in der Universitätsstadt traditionsreiche Alternativen gäbe: das Max-Planck-Gymnasium mit Wurzeln bis ins Jahr 1586 etwa, oder das Felix-Klein-Gymnasium von 1890. Doch seit etwa 15 Jahren ist es die IGS, die jedes Jahr auch Gymnasial-SchülerInnen abweisen muss.

Dabei hat die IGS seit der Gründung 1975 ihr Konzept nicht groß verändert: SchülerInnen mit Haupt-, Real- und Gymnasialempfehlung lernen gemeinsam mit Kindern mit körperlicher oder geistiger Behinderung. 1.500 an der Zahl und doch ganz individuell: Gemischt sitzen sie in Tischgruppen und lösen ihre Aufgaben gemeinsam. Es sei ganz simpel, sagt der Schulleiter Wolfgang Vogelsaenger: „Wir orientieren uns am Bedürfnis der Kinder.“ Alle duzen sich – kein Sitzenbleiben, kein Abschulen, keine Hausaufgaben. Noten gibt es erst ab der 9. Klasse, eine „Fachleistungsdifferenzierung“ erst nach Klasse 10. „Wir müssen das machen“, sagt Vogelsaenger. Ginge es nach ihm, wäre Selektion längst abgeschafft: „Zensuren haben mit Lernen nichts zu tun, sie sind ein Machtinstrument.“

Abgeschaut wurde sich das Konzept einst bei Reformschulen in Skandinavien. All das funktioniert auch in Göttingen: Ein großer Teil deren, die mit einer Haupt- oder Realschulempfehlung kamen, schaffen an der IGS das Abitur. Die Schule ist bei den zentralen Abiprüfungen unter den besten in Niedersachsen.

„Die Eltern von heute wollen nicht mehr, dass ihre Kinder einsortiert, diskriminiert und sitzengelassen werden“, sagt Vogelsaenger. „Vor 20, 30 Jahren haben Schulen auf die Industriegesellschaft vorbereitet, darauf, zu funktionieren und pünktlich zu sein.“ Selbstreflexion, kritisches Denken, Teamfähigkeit – das sei damals nicht gefragt gewesen. „Heute schauen selbst Unternehmen wie die Deutsche Bahn und VW bei Einstellungen schon nicht mehr auf die Noten.“ Der Schulleiter wird nun international eingeladen, um das Konzept vorzustellen.

Dass die IGS es länger geschafft hat als manch andere Reformprojekt, liege wohl auch daran, dass sie eine öffentliche Schule ist, so Vogelsaenger – und die LehrerInnen dadurch anständig bezahle. Zu oft würden Modellversuche nicht weitergeführt und könnten in ihrer Langzeitwirkung nicht beurteilt werden. Die IGS hielt durch – auch gegen die gesamtschulfeindliche Schulpolitik der einstigen niedersächsischen CDU-Regierung. Das Abitur nach zwölf Jahren wurde da der IGS aufgezwungen, erst 2015 ist sie es nun mit dem neuen Schulgesetz der rot-grünen Landesregierung wieder los. „Die Ära Wulff hat uns nicht gut getan“, sagt Vogelsaenger. Auch deshalb freute er sich 2011 über den Deutschen Schulpreis: Als die IGS in dem Jahr zu Deutschlands bester Schule gekürt wurden, musste Christian Wulff den Preis überreichen, diesmal als Bundespräsident. „Genial“, sagt Vogelsaenger.  JPB